Der Mercosur-Freihandelsvertrag – eine Gefahr für Umwelt, Gesundheit und Demokratie

 

Mitte März veröffentlichten die ASTM und das Klima-Bündnis Lëtzebuerg digital den Artikel „Der Mercosur-Freihandelsvertrag und die Glaubwürdigkeit der EU und Luxemburgs“. Er analysiert den Status Quo der Verhandlungen mitsamt der Kritik am Abkommen, das die EU-Kommission im Juni 2019 mit den vier südamerikanischen Staaten Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay geschlossen hat. Mittlerweile hat sich die Auseinandersetzung dazu weiter zugespitzt. Der folgende Text resümiert den oben genannten Artikel und dokumentiert die darauf folgenden Ereignisse bis Anfang April. Dabei gewinnen die Auswirkungen des Abkommens auf Demokratie und Gesundheit immer mehr an Gewicht.

 

Das Mercosur-Abkommen

Das Abkommen erhöht die Importkontingente und senkt fast alle Zollschranken zwischen den beiden Blöcken EU und Mercosur gegen Null. Dies wird zu mehr Exporten vor allem von Rindfleisch, Soja, Ethanol und Eisenerz aus dem Mercosur in die EU und von Autos, Maschinen und Chemikalien aus der EU in den Mercosur führen. Es eröffnet den europäischen Konzernen einen zusätzlichen Absatzmarkt für Autos mit zu hohen Emissionen und für Pestizide und Herbizide, die schon jetzt in der EU verboten sind. Die Agroindustrie im Mercosur wird für Flächen für Viehweiden und Monokulturen weitere Wälder roden.

Im Abkommen wurden Folgen für die Umwelt nicht berücksichtigt; erst im Dezember 2020 veröffentlichte die Kommission den Bericht « Sustainable Impact Assessment » (SIA, mehr dazu weiter unten)1 Dieser Bericht sowie Gutachten für die französische2 und die niederländische3 Regierung im April 2020 und im Oktober 2020 schätzen die ökonomischen Gewinne als unter 1% ein, während die zu erwartenden Rodungen sich negativ auf das Weltklima auswirken.

Nutznießer und Gegner des Abkommens

Während die Nutznießer des Abkommens auf eine schnelle Ratifizierung drängen4, laufen dies- und jenseits des Atlantiks die Dachverbände der Gewerkschaften5, zivilgesellschaftliche Organisationen6 und europäische Dachverbände der Landwirtschaft dagegen Sturm.7, 8

In Brasilien hat sich eine breite Front von 120 NROs gegen das Abkommen wegen der negativen Folgen für die Lebensbedingungen der schwarzen, armen und peripheren Bevölkerung gebildet.9

Kein öffentliches Thema ist bisher der Wegfall staatlicher Einnahmen durch den Wegfall von Exportzöllen, was ja zwangsläufig zur Kürzung staatlicher Ausgaben führt.

Brasilien als Schlüsselland

Politisch entscheidend ist die Unvereinbarkeit des Mercosur-Abkommens mit dem Paris Agreement. Das Gutachten für die französische Regierung kommt hier zum Schluss, dass allein die Ausweitung der Viehzucht zu mindestens 25% mehr Entwaldung für den Export in die EU führen würde. Der Vertrag verursache insgesamt mehr ökologische Kosten als ökonomische Gewinne. Da Brasilien mit seinen 210 Millionen Einwohnern rund 79% der Bevölkerung des Mercosur und 77% dessen Bruttoinlandsprodukts stellt, konzentrieren wir uns im Folgenden auf dieses Riesenland:

Zwei Studien belegen dort Rechtsverstöße im Agrobusiness: rund 20% der Sojaexporte und mindestens 17% der Fleischexporte könnten auf illegale Rodungen zurückgehen.10 Und in über ein Dutzend Fällen schlachteten die großen Fleischproduzenten JBS, Marfrig Global Foods SA, and Minerva Vieh von Zulieferern, die für extreme Ausbeutung von Arbeitern einschlägig bekannt sind. Es gebe keinen Mechanismus zur Überwachung von Zulieferern.11

Noch schlimmer wirken sich legale (!) Praktiken auf die Gesundheit aus: 95% der Sojapflanzen im Mercosur sind gentechnisch modifiziert. Darauf werden Herbizide und Pestizide in Unmengen gespritzt und oft mit Mitteln, die in Europa nicht mehr zugelassen sind, so fast die Hälfte der Pestizide von Bayer und BASF.12 80% der Proben von Muttermilch enthalten gemäß einer Studie im Bundesstaat Piaui Agrotoxine, inbesondere Glyphosat, und von 2008 bis 2017 starben in Brasilien über 7.200 Menschen an Pestizidvergiftung.13

Brasiliens Umweltpolitik

Die Indigenenorganisation APIB beklagt, dass die Entwaldung unter Präsident Bolsonaro (seit 1.1.2019 im Amt) in Amazonien von August 2019 bis Juli 2020 um 34,5% gestiegen ist.14 Ähnlich das Ergebnis von Global Forest Watch vom 31.3.21: Weltweit mit Abstand am größten sei das Ausmaß der Zerstörung in Brasilien, wo 2020 1,7 Millionen Hektar Wald durch Feuer oder Abholzung vernichtet wurden – 25% mehr als in 201915.

Das brasilianische Observatorio do Clima, ein Netzwerk von 56 Organisationen, weist darauf hin, dass der Entwurf für das Budget 2021 des Umweltministeriums mit umgerechnet rund 261 Millonen € das niedrigste seit Ende des letzten Jahrhunderts sei; trotz der vermehrten Wald- und Buschbrände habe die Regierung das Budget für Umweltinspektion und Bekämpfung der Waldbrände um über ein Viertel gekürzt.16

Die politische Stimmung in Luxemburg …

In Luxemburg hat Außenminister Jean Asselborn bereits im August 2019 seine skeptische Haltung zur derzeitigen Form des Abkommens klargestellt und empfohlen, es „einzufrieren“. In seiner außenpolitischen Deklaration am 11. November 2020 hat er sich nochmal festgelegt, dass konkrete Maßnahmen zum Stopp der Entwaldung insbesondere von Brasilien eine Voraussetzung für die Ratifizierung sei…17

Im Herbst 2020 lehnen das Internationalen Klima-Bündnis und das Klima-Bündnis Lëtzebuerg das Abkommen in seiner jetzigen Form in einer Resolution als „veraltet“ ab.18 Anschließend stimmen viele Gemeinderäte ebenfalls zu (bis Anfang April in 18 luxemburgischen Kommunen); viele von ihnen fordern Außenminister Asselborn auch schriftlich auf, das Abkommen abzulehnen. Es war auch das Klima-Bündnis, das zusammen mit anderen NGOs erreicht hat, dass Luxemburg im Frühjahr 2018 die ILO-Konvention 169 ratifiziert. Sie beinhaltet u.a. die Verpflichtung, die Umwelt der von Indigenen bewohnten Gebiete und die Rechte dieser Völker zu schützen und zu erhalten.

Mercosur ist zum Prüfstein für die Glaubwürdigkeit der Luxemburger Außenpolitik geworden.

… und in Europa

Eine Umfrage von YouGov in zwölf europäischen Staaten im Januar 2021 belegt die massive Ablehnung des Abkommens: 75% der Befragten sind der Meinung, ihre Regierungen sollten das Abkommen nicht ratifizieren, solange die Abholzung in Amazonien weitergeht.19

Die Haltung der Abgeordneten des Europaparlaments ist nicht so eindeutig – Befürworter und Ablehner des Abkommens halten sich die Waage – auch bei den luxemburgischen Deputierten.

Am 15.3.21 geht die StopEUMercosur-Koalition, ein transatlantisches Netzwerk von 450 Organisationen an die Öffentlichkeit (ASTM ist Mitglied)20.

Am 17.3.21 bezeichnen 180 Ökonom*innen die Nachhaltigkeitsstudie SIA in einem offenen Brief als „fehlerhaft“ und „irreführend“: sie beruhe auf unrealistischen Annahmen und veralteten Daten und berücksichtige nicht die Folgen der Corona-Epidemie.21 Die europäische Ombudsfrau Emily O’Reilly kritisiert am gleichen Tag, dass die Kommission die Fertigstellung des Nachhaltigskeitsberichts nicht rechtzeitig vor Abschluss des Abkommens sichergestellt hat, als „schlechte Verwaltungspraxis“.22

Mercosur in Zeiten von Corona und P.1

Zahlreiche Publikationen der Indigenen weisen darauf hin, dass das Agribusiness hauptverantwortlich für die Übertragung des Corona-Virus auf die Indigenen ist, zum Beispiel durch Angestellte in Kühlhäusern von JBS.23

Wie mit einem Bumerang kehren die Pestizidrückstände in den importierten Sojaprodukten zu uns zurück, und das gleiche steht uns noch mit der brasilianischen Mutante bevor: Im Januar wurde die Coronavirus-Variante P.1 erstmals bei vier aus Amazonien nach Japan eingereisten Menschen nachgewiesen.24 Auch in Deutschland ist P.1 schon angekommen: In seinem Bericht vom 31.3.21 beziffert das Robert Koch-Institut die Fälle der brasilianischen Mutation P.1 auf 0 Anfang Januar und auf 55 Ende März 2021.25

Zoonosen, also die Übertragung von Erregern von Tieren auf Menschen, nehmen weltweit zu; die Zerstörung von Regenwäldern verstärkt dies.26 Serge Morand und Claire Lajaunie belegen in ihrer aktuellen Studie vom 24.3.2021 in der Fachzeitschrift „Frontiers in Veterinary Science“, dass infektiöse Krankheiten in der Zeitspanne von 1990 bis 2016 häufiger in entwaldeten Gebieten und in wiederaufgeforsteten Monokulturen als anderswo aufgetreten sind. Sie untermauern diese quantitative Korrelation mit einzelnen Fallstudien und Details: Krankheiten werden in einem gesunden artenreichen Wald durch eine Reihe von Raubtieren und Lebensräumen gefiltert und blockiert. Wenn dieser durch Rodungen oder Monokulturen ersetzt wird, sterben die spezialisierten Arten aus und überlassen Generalisten wie Ratten und Moskitos die Verbreitung von Krankheitserregern in Lebensräume von Menschen. Der Verlust der Biodiversität führt zu einem Verlust der natürlichen Krankheitsregulierung.27 Sie schlussfolgern, dass Krankheitsrisiken Bestandteil aller Kosten-Nutzen-Rechnungen von Projekten sein müssen. Speziell zu Brasilien mahnen sie, jeder im Bereich der globalen Gesundheit sei besorgt über das, was dort derzeit im Bereich Biodiversität, Klima und öffentlicher Gesundheit geschieht. Es sei nur eine Frage der Zeit bis zur nächsten Pandemie. „Wir müssen uns darauf vorbereiten“.

Die brasilianische Forschergruppe um Renato Mendes Coutinho stellt am 3.3.2021 fest,  P.1 sei die übertragbarste unter den derzeitigen SARS-CoV-2-Varianten; sie stelle eine ernsthafte Bedrohung dar und erfordere dringende Maßnahmen zur Kontrolle ihrer globalen Verbreitung.28 Und der renommierte Epidemiologe und Gesundheitsökonom Dr. Eric Feigl-Ding mahnt auf Twitter: „Der beispiellose Anstieg der P1 Variante in Brasilien mit überlasteten Krankenhäusern und einer scharfen Sterblichkeitsspitze braucht unser aller Aufmerksamkeit. Wenn P1 weltweit außer Kontrolle gerät, sind wir alle gefährdet.“29

EU-Handelspolitik: Rechtsradikalismus stärken, Demokratie schwächen?

Mit Bolsonaro haben wir es hier mit einem Vertragspartner zu tun, den man sich nicht schlechter aussuchen könnte. Er ist der Hauptverantwortliche für die Ausdehnung von P.1. Er leugnet den Klimawandel. Er ist ein rechtsradikaler Militarist, der Amazonien nur als Rohstoffreservoir sieht und bereit ist, dies wenn nötig mit Militär durchzusetzen. Dass man ihn nur über ein solches Abkommen beeinflussen könne, ist politisch naive Appeasementpolitik. Im Gegenteil: Mit dem „Ja“ zu Mercosur kredenzt man ihm einen außenpolitischen Erfolg auf dem Tablett, obwohl er offensichtlich alles tut, um die Entwaldung noch weiter zu forcieren. Politiker, die das nicht sehen wollen, machen sich in seinen und den Augen anderer unglaubwürdig, um nicht zu sagen lächerlich.

Mittlerweile hat die österreichische Regierung ein Veto gegen das Abkommen eingelegt und dies in einem Schreiben vom 4.3.21 an den Premierminister Portugals bekräftigt.30 Um den wachsenden Widerstand von Mitgliedsstaaten und aus der Zivilgesellschaft ins Leere laufen zu lassen, wollen die Befürworter – die EU-Kommission und einige Länder wie Portugal und Spanien – das Handelsabkommen jetzt während der aktuellen Ratspräsidentschaft Portugals mithilfe von Verfahrenstricks durchziehen: Intern überprüft die Kommission eine Variante, das Abkommen so zu splitten, dass der eigentliche Handelsvertrag – gewissermaßen wertneutral abgekoppelt von „politischen“ Vereinbarungen – der Zustimmung des Parlaments und des Rats nicht mehr bedarf. Zudem arbeitet sie ein Zusatzprotokoll über Entwaldung und Klimawandel aus. Das Komitee für Handelspolitik arbeitet an einem „legalen Instrument“, um die bestehenden Bedenken auszuräumen, ohne jedoch die Gesamtbilanz des Abkommens wieder zu öffnen.31

Verantwortungslosigkeit statt Glaubwürdigkeit

Es drängen sich Fragen nach dem Selbstverständnis der europäischen Verhandler und Politiker auf: 20 Jahre lang verhandeln für ein Ergebnis im Promillebereich? Verhandler und Politiker hüben und drüben sind vor dem Agribusiness im Mercosur und der Auto- und Chemieindustrie in der EU eingeknickt, blind für die Folgen in den Bereichen Umwelt und Soziales, blind für die anderen Verträge der EU.

Es geht jetzt nicht mehr nur um ein Freihandelsabkommen, sondern um die Glaubwürdigkeit der EU, denn das Abkommen ist unvereinbar mit den Klimazielen des Paris Agreements, mit dem Green Deal der EU und mit der EU-Biodiversitätskonvention. Mercosur setzt Anreize zu weiteren Rodungen und Monokulturen und erhöht damit die Wahrscheinlichkeit weiterer Epidemien. Dies nicht wahrnehmen zu wollen und in die Entscheidungen einzubeziehen, ist gefährlich und verantwortungslos.

Das Mercosur-Abkommen hatte nach 20 Jahren schon sein Haltbarkeitsdatum überschritten, bevor es eingefroren wurde. Es wird Zeit, es herauszunehmen und in die Mülltonne zu werfen.

 


Quellen:

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