Die rezenten Diskussionen zum Thema Armut und zum „BIP Bien-Être“ haben aufgezeigt, dass die Armut kein individuelles, sondern ein systemisches Problem darstellt und die bisherige Berechnung des Bruttoinlandproduktes BIP grundlegend überdacht werden muss.
Den aktuellen Statistiken entnimmt man, dass sich zurzeit 18,3 Prozent der Luxemburger Bevölkerung (106.000 Menschen) in Armut befinden. Wer 60 Prozent weniger als das Medianeinkommen des Landes verdient, der wird als arm eingestuft. Bei näherem Hinsehen erkennt man, dass die Armut jedoch vielfältige Ursachen hat – nicht nur finanzielle und materielle Aspekte. Mit dem „Ausgrenzen aus der Gemeinschaft“ beginnt der rapide Abstieg in die Armut und einmal auf der tiefsten Sohle angekommen, wird die Armut auf die nachfolgenden Generationen übertragen.
Auch wenn eine Reihe von Vergünstigen den Minderbemittelten zur Verfügung stehen, so darf nicht übersehen werden, dass es eines Mindesteinkommens bedarf, um sich im reichen Luxemburg nicht finanziell in eine bedauernswerte Lage zu bewegen. Vor allem muss endlich der äußerst frappierenden Immobilienspekulation Einhalt geboten werden. Hier müssen auch die „heiligen Kühe“ u.a. die „Fonds d‘investissements spécialisés“ mittels denen die Immobilien- und Grundstückseigentümer ihre zu zahlenden Steuern auf das geringste Maß verringern, umgehend angetastet werden.
Der Studie des Statec aus dem Jahr 2019 entnimmt man, dass Arbeitslose und Alleinerziehende am stärksten von der Armut bedroht sind, gefolgt von Familien mit mehr als zwei Kindern und alleinstehenden Personen. Ohne sozialen Neid zu schüren, lässt doch die Tatsache aufhorchen: Die soziale Schere klafft immer weiter auseinander. Zwischen den Jahren 2015 bis 2018 verdienten die zehn Prozent der Topverdiener in Luxemburg im Schnitt monatlich 9882 Euro – mehr als das Zehnfache (monatlich mit 979 Euro), dessen was den zehn Prozent am unteren Ende der Skala zur Verfügung stand.
Aus eigener Erfahrung – bezüglich dem Erklimmen der sozialen Leiter – sehe ich in der Schule den wichtigsten Garanten für ein „Leben in Würde“. Das Thema Armut muss in der Mitte der Gesellschaft ankommen, Lippenbekenntnisse und Verweise auf das lokale „Office social“ sowie die Eingliederung in prekäre Beschaffungsmaßnahmen helfen nicht, die Armut zu besiegen. Das Statec hat in einer Studie aufgezeigt, dass ein Arbeitsplatz nicht vor der Armut schützt – 13,4 Prozent der Erwerbstätigen waren im Jahr 2018 ebenfalls bedroht. Es sei darauf hingewiesen, dass eine vierköpfige Familie monatlich 4213 Euro benötigt, um „menschenwürdig zu leben“ – die Armutsgefährdungsgrenze liegt hier bei monatlich 4227 Euro. Ein Paar ohne Kinder bräuchte demgegenüber monatlich 2912 Euro – die Armutsgrenze liegt hier bei monatlich 3020 Euro und eine alleinstehende Person bräuchte monatlich 2110 Euro – die Armutsgrenze liegt hier bei monatlich 2013 Euro.
Weitaus trauriger die Aussage (beruhend auf den Auswertungen aus dem Jahr 2017) seitens Eurostat, dass in Luxemburg junge Menschen und Berufseinsteiger am zweithäufigsten von der Armut betroffen sind – Menschen zwischen 18 und 24 Jahren. Das „reiche Luxemburg“ belegt mit 20 Prozent den zweiten Platz im EU-Ranking hinter Rumänien (28,2 Prozent) wobei der EU-Durschnitt bei 11,9 Prozent liegt.
Das BIP ist kein nachhaltiges Berechnungsinstrument für den Wohlstand unserer Gesellschaft
Man kann es nicht abstreiten, mit steigenden Wachstumsraten des Bruttoinlandproduktes (BIP) ging eine Erhöhung des Wohlstands in vielen Ländern der Erde – vor allem in den Industrieländern – seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges einher. Durch das wachsende BIP wurde die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft erhöht, welche einen steigenden Wohl-stand erbrachte.
Seit Beginn der Berechnung des BIPs wird nicht das Wohlbefinden einer Nation gemessen, sondern nur die monetäre Zusammenfassung der Produktion von Gütern und den Dienstleistungen. Es drängt sich demzufolge immer stärker die Frage auf, ob das BIP noch das geeignete Maß darstellt, um das Wachstum der Gesellschaft widerzuspiegeln, dies angesichts der Tatsache, dass die globale Ungleichheit in allen Ländern der Erde steigt. Das Wirtschaftswachstum ist demzufolge kein Gradmesser für den materiellen Wohlstand in der Gesellschaft.
Nach den Veröffentlichungen des „Club of Rome“ über die Grenzen des Wachstums im Jahr 1972 wurde verlautbart, dass nicht die Quantität des Wachstums entscheidend sei für den wachsenden Wohlstand, sondern die Qualität des Wachstums. Es werden Dienstleistungen in das BIP eingeschrieben, die in keiner Weise zur Erhöhung der Lebensqualität der Bürger beitragen u.a. die Autounfälle und deren Reparaturkosten, die Verschrottung von Produkten, die Beseitigung von Schäden an der Biodiversität, die Säuberung der Gewässer und die Wiederherstellung von gesunden Agrarflächen. Demgegenüber werden viele gesellschaftliche Leistungen u.a. die private Altenpflege, die Hausarbeit, die Nachbarschaftshilfe sowie das ehrenamtliche Engagement nicht eingerechnet.
Da von einem steigenden BIP nicht immer alle profitieren, die Verteilungsfrage sogar völlig ausgeklammert wird, ist es kein Indikator für Entwicklung und Fortschritt. Weitere Untersuchungen aus der Glücksforschung zeigen außerdem, dass die Steigerung des Einkommens ab einem bestimmten Wohlstandsniveau gar nicht zu mehr subjektiver Lebensqualität führt.
Anlässlich des diesjährigen Wirtschaftsgipfels in Davos vermeldete die ONG OXFAM, dass weltweit 2.153 Milliardäre über mehr finanzielle Mittel verfügten als 60 Prozent der Weltbevölkerung. Wie kann man hier von „Gerechtigkeit für alle Menschen“ reden, wenn die ärmsten zehn Prozent der Weltbevölkerung nur über zwei Prozent des weltweiten Einkommens verfügen?
Das BIP darf nicht mehr als die Richtschnur des Wohlergehens eines Landes dienen, im aktuellen BIP vermag ich nur ein Maß für die ökologische Zerstörung auszumachen.
Brauchen wir überhaupt noch Wohlstandswachstum?
Neben der Bemessung des Bruttonationalglücks mit seinen 33 Indikatoren u.a. das subjektive Wohlbefinden, die Gesundheit, die Bildung, die Kultur, die Aufteilung zwischen Arbeitszeit und Freizeit, die Politik, das Gemeinschafts- und Familienleben, die Umwelt und der Lebensstandard, wie ihn das Königreich Bhutan im Himalaya entwickelt hat, gibt es noch das im Jahr 1990 eingeführte „Human Development Index“ (HDI) der Vereinten Nationen. Noch wesentlich mehr Faktoren als der „Human Development Index“ berücksichtigt der im Jahr 2011 veröffentlichte „Better Life Index“ der Industrieländer-Organisation OECD die beiden Bereiche: „Materielle Lebensbedingungen“ und „Lebensqualität“.
Zur Bemessung des Wohlstandes einer Nation dient meines Erachtens vielmehr der „Gini-Koeffizient“ eine zentrale Rolle. Der Koeffizient nimmt Werte zwischen 0 (bei gleichmäßiger Verteilung) und 1 (wenn das gesamte Einkommen in den Händen von einer Person vereinnahmt ist – die maximale Ungleichverteilung liegt vor) ein.
Laut der Veröffentlichung von Bruno Urmersbach (Statista) am 22. Januar 2020 zeigt sich, dass sich die Einkommensungleichheit zwischen den Jahren 2008 bis 2018 sehr stark erhöht hat. Im Jahr 2018 erreichte der Gini-Koeffizient den Wert von 0,332, derweil sich der EU-Durchschnitt auf 0,309 belief. Im Jahr 2008 betrug dieser Wert noch 0,277 – dies weist genügend auf die Gerechtigkeit in Luxemburg hin.
Doch trotz der offensichtlichen Grenzen unseres Planeten mit seinen endlichen Ressourcen und der begrenzten Regenerationsmöglichkeiten ist der Wachstumsgedanke omnipräsent. Wie oft hört man: „Wachstum sei notwendig, verspreche Arbeitsplätze, Wohlstand und volle Staatskassen, ermögliche die notwendige Entwicklung für die Minderbemittelten“. „Wer in einer begrenzten Welt dennoch an unbegrenztes Wachstum glaubt, ist entweder ein Idiot oder ein Ökonom“, sagte der US-Ökonom Kenneth Boulding.
Diesbezüglich muss daran erinnert werden, dass Luxemburg am 16. Februar 2020 seinen Erdüberlastungstag bereits erreicht hatte und bis zum 31. Dezember 2020 „auf Pump“ lebt. Luxemburg hat die Ressourcen erschöpft und wenn alle Menschen „die Erde wie die Luxemburger ausbeuten“, dann bräuchten wir beinahe acht Erden.
Betrachtet man die Resultate des Glückbefindens in den Industrieländern und den aufstrebenden Schwellenländern, so lässt sich keine positive Korrelation zwischen dem Wachstum des BIPs und der durchschnittlichen Lebenszufriedenheit der Menschen erkennen.
Es stellt sich somit die Frage: „Brauchen wir angesichts des erreichten hohen Wohlstandsniveau noch Wohlstandswachstum?“ Das endlose Wirtschaftswachstum ist keine Option, denn der Verzicht auf das weitere Wachstum kann mit dem „Easterlin-Paradoxon“ begründet werden. Richard Easterlin zeigte in seinen Forschungen, dass sich oberhalb bestimmter Schwellen des Reichtums das Glücksniveau nicht steigern lässt. Das Paradoxon besagt, dass der Zuwachs an Lebenszufriedenheit durch ein höheres Einkommen mit steigendem Niveau des bereits erreichten Wohlstandes nur noch gering ist. In den hoch entwickelten Industrieländern kann keine Korrelation mit der Lebenszufriedenheit festgestellt werden.
Die natürlichen Ressourcen und die Regenerationsfähigkeit der natürlichen Umwelt sind begrenzt, deshalb müssen wir uns eingestehen, dass das aktuelle wirtschaftliche Wachstum die natürlichen Lebens- und Wirtschaftsgrundlagen nicht schützt und insofern nicht nachhaltig ist?