Nadine Haas: CEDIB ist Teil einer zivilgesellschaftlichen Allianz, welche mehr als 60 indigene Gemeinschaften, bäuerliche Organisationen sowie NGOs umfasst, und die sich derzeit aktiv an den Vorbereitungen der Universal Periodic Review (UPR) Boliviens beteiligt. Was sind die dringendsten Menschenrechtsprobleme in Bolivien?
Oscar Campanini: Besorgniserregend sind zum einen die Beeinträchtigungen der Umwelt und der Rechte indigener Völker: Die Wirtschaftskrise in Bolivien hat die Ausweitung extraktivistischer Aktivitäten noch verstärkt, und das auch in Umweltschutzgebieten und indigenen Territorien. Der Anstieg des internationalen Goldpreises hat zu einem ungezügelten und unkontrollierten Wachstum des Goldabbaus geführt, insbesondere in den Flüssen des Amazonasgebietes. Der Goldabbau geht mit zahlreichen Menschenrechtsverletzungen einher: Umweltverschmutzung, Gewalt gegen Menschenrechtsverteidiger, Zwangsvertreibung, Sklaverei, Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Mädchen und Frauen.

Am meisten macht uns in Bolivien die Verseuchung mit Quecksilber Sorgen. Bolivien ist in den letzten fünf Jahren zum weltweit größten legalen Importeur von Quecksilber geworden. Zahlreiche Studien zeigen bereits, dass der Quecksilbergehalt im Körper der Menschen im bolivianischen Amazonasgebiet die international zulässigen Grenzwerte um ein Vielfaches übersteigt. Besonders betroffen von dieser Art der Kontamination sind Frauen und Kinder.
Hinzu kommen der Druck auf Menschenrechtsverteidiger und die Einschränkung des zivilen Raums, denn mit der Zunahme extraktivistischer Aktivitäten nehmen auch die Verletzungen der Rechte derjenigen zu, die Menschenrechte einfordern. Zwischen 2017 und 2024 wurden mindestens 250 Vorfälle oder Angriffe auf Umwelt- und Landverteidiger festgestellt. Obwohl der bolivianische Staat das Escazú-Abkommen unterzeichnet und ratifiziert hat, sind es Institutionen oder Personen aus der Regierung oder aus dem Umfeld der Regierungspartei, die diese Verstöße begehen.
Nicht zuletzt beunruhigt uns die tiefgreifende Schwächung der demokratischen Institutionen und der Rechtsstaatlichkeit: dies ist zweifelsohne eines der besorgniserregendsten Themen. Der politischen Macht ist es nicht nur gelungen, kritische soziale Organisationen durch Kooptation, Delegitimierung und Verfolgung/Kriminalisierung zu schwächen, sondern auch die Staatsgewalt zu instrumentalisieren. Dies hat zu einer tiefgreifenden Schwächung der Justiz, der Legislative und der Wahlkommission geführt. Ungerechtigkeit und Straflosigkeit sind zur gängigen Praxis geworden.
Für die Mitarbeit an der UPR ist es gelungen, eine breite zivilgesellschaftliche Allianz zusammenzubringen. Wie würdest du die allgemeine Lage der zivilgesellschaftlichen Organisationen in Bolivien beschreiben?
Die sozialen Organisationen werden seit mehreren Jahren durch den Druck, die Einmischung und die politische Kooptation seitens der Regierung geschwächt. Die interne Krise der Regierungspartei hat inzwischen sogar die regierungsnahen Organisationen selbst geschwächt. Nur einige wenige Gruppen, die von diesen Aktionen oder extraktiven Projekten betroffen sind, bleiben trotz des auf sie ausgeübten Drucks kritisch und aktiv. Diese Gruppen, die wir als Widerstandsgruppen bezeichnen, sind Bezugspunkte für die Zivilgesellschaft hinsichtlich ihrer Organisation und kritischen Positionierung.
Menschenrechtsverteidiger und Umweltschützer werden weltweit verfolgt, und in einem vom Extraktivismus geprägten Land wie Bolivien ist es besonders riskant, sich für Menschenrechte und Umweltschutz einzusetzen. Inwieweit kommt der bolivianische Staat seiner Aufgabe nach, diese Menschen zu schützen, und wie würdest du den Zugang zu Gerichten und das Funktionieren des Rechtsstaates bewerten?
Verfolgung und Kriminalisierung werden immer mehr zu Druckstrategien der politischen Macht. Dieser Aspekt und die Instrumentalisierung des Justizsystems sind die größten Hindernisse für den Widerstand und die Zivilgesellschaft. Hinzu kommt die Tatsache, dass die Wirtschaftskrise in der bolivianischen Gesellschaft insgesamt größere Besorgnis hervorruft und manchmal von solchen Entwicklungen ablenkt.
Im 2024 World Press Freedom Index von Reporter ohne Grenzen verschlechtert sich Bolivien von Platz 117 auf Platz 124. Drohungen, Zensur und Schikanen durch die Regierung und regierungsnahe Kräfte verletzen ständig die Pressefreiheit. Übergriffe auf Journalisten, insbesondere durch die Polizei, nehmen zu. Welche Rolle kommt in einem solchen Kontext dem CEDIB als Informationszentrum zu und wie versucht ihr, den Einschränkungen entgegenzuwirken?
Die Medien wurden durch den wirtschaftlichen Druck des Staates so sehr geschwächt, dass eine beträchtliche Anzahl von ihnen geschlossen wurde oder kurz davor steht, geschlossen zu werden. Der Druck auf kritische Stimmen von Menschenrechtsverteidigern hat auch Journalisten (sowohl aus etablierten als auch aus unabhängigen Medien) erreicht, wobei die Zahl der Fälle direkter Aggressionen bei Mobilisierungen oder bei kritischer Berichterstattung exponentiell zunimmt. In diesem Zusammenhang ist die Arbeit des CEDIB, Informationen zu generieren und sichtbar zu machen, die vom Staat verschwiegen oder falsch dargestellt werden, eine strategische Arbeit. Eine weitere wichtige Maßnahme ist die Sensibilisierung der Journalisten für ihre Arbeit zur Gewährleistung der Menschenrechte und ihre strategische Rolle bei der Verteidigung der Menschenrechte.
Im vergangenen Jahr war Bolivien in den internationalen Schlagzeilen aufgrund eines (inszenierten?) Putschversuches. Wie würdest du die Folgen dieses Ereignisses auf die demokratischen Institutionen des Landes beschreiben, vor allem mit Blick auf die 2025 bevorstehenden Wahlen? Und wie wirkt sich dies auf jenen Teil der bolivianischen Zivilgesellschaft aus, der sich für die Verteidigung/Stärkung der Demokratie einsetzt?
Der Pseudo-Putsch vom Juni spiegelt nicht die Unzufriedenheit im Militär wider, sondern vielmehr die Manipulation des Staatsapparats durch die beiden zerstrittenen Fraktionen der Regierungspartei, um die Führungsrolle zu übernehmen. Der parteiinterne Kampf um die Präsidentschaftskandidatur hat ein Ausmaß angenommen, das von völliger Verantwortungslosigkeit gegenüber der bolivianischen Gesellschaft zeugt. Vor dem Hintergrund eines geschwächten Justizsystems und einer tiefen Wirtschaftskrise bemessen die Führer beider Fraktionen nicht die Auswirkungen ihrer Konfrontation und zeigen stattdessen ein übermäßiges Interesse am Erhalt ihrer Macht.
Zum Vertiefen:
– CEDIB u.a. (2024): Illegal Gold Mining: Impacts on Human Rights and Biodiversity in the Amazon. Six Countries Report
– CEDIB Informa (2/2024): Pantomima de golpe en Bolivia