Robin Weber-Höller – Mit der 6. Auflage des „Handbuch Philippinen. Gesellschaft-Politik-Wirtschaft-Kultur“ halte ich zugleich auch meine erste Ausgabe in den Händen. Für mich persönlich trägt es im Kontext privater und beruflicher Erfahrungen zu einem tieferen Verständnis der Seele des südostasiatischen Archipels in all seiner Vielfalt, Schönheit und Zerrissenheit bei. Reiseerfahrungen bekommen einen neuen Anstrich; familiäre Beziehungsmuster erweiterte Handlungsspielräume. Möglichkeiten des persönlichen Engagements werden klarer, Kenntnislücken schließen sich.
Wer sich schon etwas mehr mit den Philippinen auseinandergesetzt hat, wird im vorliegenden Handbuch durchaus bekannten Themen und Inhalten begegnen, wenngleich man diesen besonderen Grad an Tiefe, Genauigkeit und Empathie in anderer Literatur vermissen wird. Es benötigt ein sehr feines Gespür und viel praktische Erfahrung im Umgang mit Kultur und Menschen, um die Facetten philippinischer Sozialisierung derart einfühlsam zu beschreiben, wie es hier gelingt (z. B. im Kapitel „Kinder, Kindheit und Erwachsenwerden“, in dem es u. a. um die Erziehung von Kindern geht, deren Bedeutung für Familie und Gesellschaft und ihre Rechte z. B. im Kontext von Kinderarbeit).
Darüber hinaus fokussiert sich das Handbuch insbesondere auf die Entwicklung politischer Dynastien, thematisiert die Konsolidierung der extrem ungleichen Besitz- und Machtverhältnisse und rückt in diesem Zusammenhang die strukturellen sozialen Probleme in den Vordergrund. Die ernüchternden Folgen von Interessenskonflikten zwischen Bevölkerung und einem willkürlich agierenden Staat werden unverblümt analysiert und offengelegt (u. a. im Kapitel „Mindanao: ressourcen- und konfliktreich“, in dem es um die zahlreichen Ursachen und Folgen diverser, seit langer Zeit schwelenden Konflikte im Süden des Landes geht).
Das Handbuch ist für alle geeignet, die sich einen tieferen Einblick in das Wesen von Land, Geschichte, Menschen, Wirtschaft, Kultur, Religion oder insbesondere Politik verschaffen möchten. Es bietet einen hervorragenden Überblick zu aktuellen und zentralen gesellschaftspolitischen Themen und liefert darüber hinaus wertvolle Hintergrundinformationen (u. a. aus der philippinischen Presse oder den Medien), Literaturverweise sowie Links für weiterführende Recherchen. Aus historischer Perspektive spannt es einen weiten Bogen von der neueren Geschichte bis hin zum Wandel zu einer modernen Gesellschaft, die politisch immer noch an postkolonialen Symptomen krankt. Nischenthemen wie etwa Film oder Literatur runden das Handbuch an vielen Stellen ab und eröffnen eine ganzheitliche Sicht auf Land und Leute. Die Inhalte sind oft mit Beispielen aus dem Lebensalltag unterfüttert (z. B. Streiks vor dem Hintergrund prekärer Arbeitsbedingungen, siehe Kapitel „Die Gewerkschafts- und Arbeiter/innen-Bewegung“) und schaffen ein praxisbezogenes, lebendiges Bild der philippinischen Gesellschaft. Insgesamt handelt es sich um eine sehr abwechslungsreiche Lektüre, die aufgrund der authentischen Erfahrungshintergründe der Autorenschaft nicht zuletzt auch sprachlich überzeugt, umso mehr durch Verwendung und Erläuterung zahlreicher Begriffe philippinischer Sprachen. Mit einer guten Mischung u. a. aus sachlichen Beiträgen, Erlebnisberichten oder übersetzten Originalquellen richtet sich das Handbuch literarisch an eine breite Leserschaft.
Wenngleich die politischen Analysen in diesem Handbuch aus einer westlichen Sichtweise einwandfrei nachvollziehbar sind, wäre nach meinem Verständnis eine etwas ausgewogenere Darstellung wünschenswert gewesen. Dort wo politische Dynastien mit Diktaturen und all ihren Schrecken in Verbindung gebracht werden, gelangte ich in Gesprächen mit Filipin@s oft an einen neuralgischen Punkt. Wenn man sich mit ihnen auf Augenhöhe über damalige oder gegenwärtige Politik in ihrem Land unterhalten möchte, so ist das Verständnis der individual-psychologischen Perspektive genauso wichtig wie das der systemischen. In diesem Kontext stände etwa die Frage, welche persönlichen Beweggründe dazu veranlasst haben, z. B. seinerzeit Despoten wie Marcos über Jahrzehnte im Amt zu stützen bzw. „gut“ zu heißen.
Wie vielfältig, lebendig aber auch brüchig die philippinische Zivilgesellschaft an vielen Stellen ist, wird insgesamt sehr deutlich, auch, wo sie noch mehr solidarische Unterstützung gebrauchen könnte. Dort wo ihr diese Unterstützung von einem korrupten Staatsapparat oftmals verwehrt bleibt, erkennt man nichtsdestotrotz Hoffnungsschimmer, die Mut machen auch als Außenstehender genauer hinzuschauen und sich zu engagieren!
Unterm Strich bleibt zu sagen: Eine derart umfassende und zugleich kompakte deutschsprachige Publikation über die Philippinnen habe ich bisher nicht gefunden. Das Handbuch ist informativ, präzise und aktuell, ein wahrer Wissensschatz! Es reichert bestehendes Wissen an, verknüpft lose Enden und sorgt dort für Fragen und Erkenntnisse, wo man mit einem westlich geprägten Mindset gedanklich oft zum Stillstand kommt. Es sollte in keiner Philippinen-Bibliothek fehlen! Zum Schluss möchte ich gerne eine ehrenamtliche Mitarbeiterin von IPON, dem in Hamburg ansässigen International Peace Observers Network, zitieren, die mir auf die Frage, ob sie das Handbuch kennen würde, mit einem erstaunten Blick folgendes zur Antwort gab: „Das ist unsere Bibel!“
Rainer Werning/Jörg Schwieger (Hg.):
Handbuch Philippinen – Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Kultur
6., akt. & erw. Auflage
Berlin 2019: regiospectra Verlag
500 Seiten, 24,90 Euro