Nelly Grotefendt, Forum Umwelt und Entwicklung – ISDS? Noch nie gehört? Das war einmal. Akronyme, die bisher überwiegend in kleinen Zirkeln von Expert*innen diskutiert wurden, haben in den vergangenen fünf Jahren europaweit die Öffentlichkeit und Politik in Atem gehalten und eine beispiellose Kontroverse um ein bislang unbekanntes Element internationaler Handelsabkommen ausgelöst. Es ging um das sogenannte Investor-State-Streitbeilegungssystem, kurz gesagt, ISDS oder mittlerweile auch in seinem neuen Gewand ICS bekannt: Investment Court System. Allgemein wird der Mechanismus auch als Konzernklagen bezeichnet. Ein solcher Konzernklagemechanismus ist in Tausenden von internationalen Abkommen enthalten. Er erlaubt es international tätigen Konzernen, Regierungen zu verklagen, wenn diese Regulierungen erlassen, die die Gewinne des Konzerns beeinträchtigen. Selbst dann, wenn die Regulierung beispielsweise zum Schutz der öffentlichen Gesundheit oder Umwelt erlassen wurde. Hinzu kommt, dass es sich hierbei um Klagerechte handelt, die einzig und allein dieser Gruppe zugänglich sind und die innerstaatlichen Gerichte umgehen. Sie finden vielmehr vor einem internationalen Schiedsgericht statt, das aber nicht aus regulären Richter*innen besteht, sondern aus drei privaten Rechtsanwälten, die entscheiden, ob private Gewinne oder öffentliche Interessen wichtiger sind. Weltweit haben diese sogenannten Tribunale international tätigen Konzernen bereits Milliarden an Steuergeldern als Schadensersatz für Regulierungen im öffentlichen Interesse beschert.
Mit dem Widerstand gegen das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP – Transatlantic Trade and Investment Partnership – fanden sich die Konzernklagen im Zentrum der Kritik wieder. Kritik gab es auch von den EU-Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament. „ISDS“ wurde so laut EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström zum „giftigsten Akronym in Europa“.
Das Kind beim Namen nennen – nur bei welchem?
Was macht man, wenn man versucht, sich ein neues Image zu geben, sich einen progressiven, grünen oder innovativen Anstrich zu verpassen? Hauptsache man vermittelt den Eindruck, dass man einen Neuanfang gewagt hat. Der beliebteste Schritt ist oft, sich erst einmal einen neuen Namen zu geben. Nach dem massiven Protest gegen Konzernklagen im Rahmen des transatlantischen Abkommens TTIP entschloss sich demnach die EU-Kommission, einen Reformprozess zu initiieren, der darauf hinauslief, ein neues Akronym zu wählen: ICS oder eben auch Investment Court System. Die EU-Kommission veröffentlichte einen überarbeiteten Vorschlag für alle laufenden und künftigen Investitionsverhandlungen der EU, einschließlich TTIP und dem EU-Kanada Abkommen CETA. Der Reformvorschlag versprach, die Kritikpunkte aufzunehmen und wollte anstatt des „alten“ ISDS-Systems ein „neues“ und angeblich unabhängiges System etablieren, das insbesondere das Recht der Regierungen auf Regulierung schützen sollte.
Das neue Image sollte die weiterhin bestehenden enormen Mängel des Systems kaschieren, und gleichzeitig die geplante enorme Ausweitung des Systems überdecken.
Dabei treffen die wichtigsten Mängel des ISDS-Systems auch auf ICS zu. Es kann zwar festgestellt werden, dass es einige prozedurale Verbesserungen gibt, sie gehen aber die grundlegende Problematik des Systems nicht an. ICS ist, auch wenn im Namen das Wort Gericht vorkommt (Court), kein Gericht: Es basiert auf einem Schiedsverfahren, das exklusiv ausländischen Investoren zur Verfügung steht. Es kann keine Rede sein von einer grundlegenden Garantie für ein unabhängiges Rechtssystem. Auch sind Schiedsrichter keine unabhängigen „Richter“. Sie haben keine feste Amtszeit mit einem festen Gehalt. Sie werden pro Arbeitstag bezahlt, wobei ein finanzieller Anreiz besteht, zugunsten von Anlegern zu entscheiden, um besser bezahlt zu werden. Schiedsrichter, die derzeit privat tätig sind (Investoren vertreten), können im Rahmen des Vorschlags als „Richter“ ernannt werden. Auch die vorgeschlagenen ethischen Anforderungen weisen Mängel auf: Es gibt zum Beispiel weder Karenzzeiten noch eine etwaige Beendigung des Dienstes eines Schiedsrichters, oder eine klare Definition von Interessenkonflikten.
Auch sticht ein Punkt heraus mit dem die EU-Kommission eigentlich gehofft hatte zu punkten: Das Recht zu regulieren sollte im neuen System gut geschützt sein.
Doch die Formulierung ist sehr vage und überlässt es erneut den Schiedsrichtern, zu interpretieren, welche staatlichen Maßnahmen „notwendig“ sind, um „legitime“ Ziele, sprich Regulierungen im Sinne des öffentlichen Interesses, zu erreichen. Konzernklagen verhindern nicht per se Regulierung, aber sie können diese Regulierungen durch die kostspieligen Klagen sehr teuer werden lassen.
Wie wirken Konzernklagen?
Eine neue Studie deutscher zivilgesellschaftlicher Organisationen1 nimmt die Auswirkungen von Konzernklagen auf Umweltgesetzgebungen unter die Lupe. Denn sowohl ISDS, wie auch ICS, gewähren den ausländischen Investoren Sonderrechte, ohne diese an Verpflichtungen wie die Einhaltung von Umwelt-, Sozial-, Gesundheits- und Sicherheitsnormen oder anderen regulatorischen Standards zu koppeln. Auch handelt es sich um ein exklusives System, das beispielweise nicht den Opfern von Konzernverstößen gegen Menschenrechte offen steht, auch wenn diese Konzerne wiederum auf das System zugreifen können. Meist wird das System vielmehr genutzt, um Umweltgesetzgebungen zu unterlaufen. Und da es sich bei ICS um prozedurale Änderungen handelt, verspricht die vermeintliche Reform hier keine Verbesserung.
Anfang September 2018 zog ein Bericht über die Abschwächung des Gesetzes „Hulot“, benannt nach dem ehemaligen französischen Umweltminister, seine Kreise. Frankreich hatte versucht, den Abbau von klimaschädlichem Kohlenwasserstoffvorkommen (gemeint ist beispielsweise Erdgas oder Erdöl) zu verbieten. Durch erfolgreichen Druck der Industrielobby wurde das Gesetz allerdings im letzten Moment abgeschwächt und erlaubt nun eine Schonfrist bis 2040. Bemerkenswert ist daran, dass die Androhung einer Investor-Staat-Klage des kanadischen Unternehmens Vermilion den Ausschlag für die Abschwächung des geplanten Gesetzes gegeben haben könnte.
Vermutlich lässt sich das nicht endgültig beweisen, dennoch zeigt dies den enormen Druck auf Regierungen und ihre Regulierungsapparate durch transnationale Unternehmen.
Umweltschutz ist und bleibt für Unternehmen freiwillig.
Schmelzende Gletscher vs. Konzernprofite
Der Handlungsdruck ist omnipräsent und wird sowohl von Regierungen, internationalen Institutionen, Medien, als auch von beispielsweise Zivilgesellschaft und Wissenschaft begleitet und diskutiert: Die schmelzende Arktis, zurückgehende Gletscher, zunehmende Meeresverschmutzung und ein massiver Rückgang der Biodiversität erfordern sofortiges Handeln. Im Oktober 2018 veröffentlichten die Welthandelsorganisation (WTO) und das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UN Environment) gemeinsam eine Publikation, die beschreibt, wie wichtig Nachhaltigkeit und Umweltschutz sind. Sie wollten ein Signal senden, dass Handels- und Umweltpolitik sich ergänzen müssten.2 Doch ist die aktuelle Handelspolitik überhaupt in die Richtung gedacht, im Sinne von mehr Nachhaltigkeit zu funktionieren?
Ungehinderte Geschäfte
Konzerne profitieren weltweit meist von einer schwachen Umweltgesetzgebung. Insbesondere, wenn es um naturschädigende Geschäftsmodelle geht, wie u.a. den Rohstoffabbau. Konzernklagerechte haben sich dabei als nützliches Instrument etabliert. Sie erlauben es international tätigen Konzernen gesetzlich bindende und somit auch rechtlich einforderungsfähige Regulierungen anzugreifen, zu schwächen und teils auch zu unterwandern. Besonders in den Sektoren Bergbau und Elektrizität/Gas steigen die Klagen seit den 2000er Jahren massiv an. Von den bekannten 904 ISDS-Fällen kommen 383 Fälle aus den Bereichen Landwirtschaft, Bergbau, Elektrizität/Gas oder Wassermanagement, haben also einen Bezug zu Umwelt und Rohstoffen. Dabei führen erfolgreiche Klagen oder auch schon nur die Androhung einer Klage dazu, dass Regulierungen geschwächt werden oder ganz verschwinden und Konzerne somit weiter ungehindert ihrem Geschäftsmodell nachgehen können. Und: was für den Umweltschutz zählt, gilt auch für den Bereich Menschenrechte, Gesundheitsschutz, ArbeitnehmerInnenrechte oder VerbraucherInnenschutz, : die Liste der anpassungs- und verbesserungswürdigen Regulierungen ist lang – und der Gegner mächtig.
Wie zukunftsfähig ist die aktuelle EU-Handelspolitik?
Anfang Februar stimmte das EU-Parlament erstmalig über ein geteiltes Abkommen ab: das Handels- und das Investitionsabkommen mit Singapur. Eigentlich war das Abkommen als umfassendes Handelsabkommen mit Investitionskapitel verhandelt worden. Doch nachdem der EuGH entschieden hatte, dass der Investitionsteil von allen Mitgliedsstaaten einzeln ratifiziert werden müsse, folgte der Rat der Empfehlung der EU-Kommission und teilte es in zwei Einzelabkommen auf. Dies könnte den Anfang vom Ende der Konzernklagen besiegeln, denn bei der anhaltenden Kritik erscheint es unwahrscheinlich, dass ein Investitionsabkommen die Zustimmung aller Parlamente aller Mitgliedsstaaten erhält, die es braucht, um in Kraft zu treten. Ein ähnliches Schicksal fristet derzeit das EU-Kanada Abkommen CETA, das seit über einem Jahr in der vorläufigen Anwendung ist, allerdings ohne das Investitionskapitel mit dem ICS-Mechanismus. Es bietet sich darin auch eine Chance, das System loszuwerden.
Außerdem organisiert sich die europäische Zivilgesellschaft weiter gegen die Konzernklagen. Erst Ende Januar startete die europaweite Petition „Menschenrechte schützen –Konzernklagen stoppen“, die in einer Woche mehr als 250.000 Unterschriften sammelte und mittlerweile weit über die halbe Million hinaus ist.
ICS, ISDS – Buchstabenballett für Konzernklagen
ICS ist für die Steuerzahler, die Politik im öffentlichen Interesse und die Demokratie ebenso gefährlich wie das „alte“ und viel kritisierte ISDS-System. Durch den Reformdiskurs, den die EU-Kommission etabliert hat, ist es vielleicht sogar noch gefährlicher. Doch ist das System grundsätzlich ungeeignet, um die wichtigsten Herausforderungen unseres gegenwärtigen Zeit und der Zukunft zu meistern. In einer Zeit, in der alle Aufmerksamkeit darauf gerichtet sein sollte, eine globale Klimakatastrophe und die nächste Wirtschaftskrise abzuwenden, gibt es einfach keinen Raum für Vereinbarungen, welche die Lösung dieser Probleme illegal oder zumindest sehr teuer machen. Bestehende Verträge, die es Konzernen erlauben, Regierungen wegen Regulierungen – von strengen Vorschriften zur Bekämpfung der Umweltverschmutzung bis hin zu strengeren Vorschriften für Banken – zu verklagen, sollten abgeschafft werden. Es gibt viele gute Gründe dafür, dass wir Konzernklagen jetzt ein für alle Mal loswerden sollten: die EU-Mitgliedsstaaten haben jetzt die Gelegenheit dazu.
Quellen:
1 Under Pressure: Mit Konzernklagen gegen den Umweltschutz. Online verfügbar unter: https://www.forumue.de/under-pressure-mit-konzernklagen-gegen-umweltschutz/
2 Vgl. WTO, UN Environment: Making trade work for the environment, prosperity and resilience, online verfügbar unter: https://www.wto.org/english/news_e/news18_e/envir_02oct18_e.htm