Karen Spannenkrebs aus dem Verein demokratischer Ärzt:innen –

Der Artikel wurde zuerst in der vdää-Zeitschrift „Gesundheit braucht Politik“ Ausgabe 4/2022 veröffentlicht.

Der Vdää* (https://www.vdaeae.de/) ist ein ärztlicher Berufsverband in Deutschland mit fast 40-jähriger Geschichte. Er versteht sich als kritische und progressive Alternative zu ständisch orientierten ärztlichen Interessensvertretungen und bietet Raum für Diskussionen und Analysen zum Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Verhältnissen, Krankheit und Gesundheit. Berufsgruppenübergreifende und internationale Solidarität und der Einsatz für eine demokratische, patient:innenorientierte und sozial verantwortliche Gesundheitsversorgung stehen im Mittelpunkt.
Die vdää-Zeitschrift Gesundheit braucht Politik’ erscheint mindestens viermal im Jahr zu unterschiedlichen Schwerpunktthemen.
Seit Mitte 2022 ist der Vdää* im Projekt „Pillars of Health“ vertreten, das sich mit europäischen Perspektiven auf Gesundheitsfachkräftemigration befasst.

Lässt sich das enorme Personalproblem im deutschen Gesundheitssystem einfach durch Importe aus dem Ausland lösen? Ein kurzer Überblick über die Geschichte und die aktuelle Praxis der Rekrutierung von Gesundheitsfachkräften nach Deutschland.

Operationssäle liegen brach, Notaufnahmen werden abgemeldet. Ärzt:innen und Pflegekräfte arbeiten durchgehend am Limit. Überall suchen die Krankenhäuser händeringend nach Personal. Das deutsche Gesundheitssystem hat ein massives Problem. Und das ist nicht zuletzt ein Personalproblem.

Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, sich diese Gesundheitsfachkräfte einfach zu importieren. Der Großteil unserer Konsumgüter wird im Ausland produziert, unsere Nahrungsmittel werden von ausländischen Saisonkräften geerntet und gefertigt und die ambulante Altenpflege wird zu einem Großteil von osteuropäischen Frauen erledigt. Warum also nicht auch die zunehmend unbeliebte Gesundheitsversorgung von arbeitswilligen Menschen aus ärmeren Ländern erledigen lassen?

Der ehemalige Gesundheitsminister Jens Spahn hatte die Aushandlung von Abwerbeabkommen mit pressewirksamen Touren nach Mexiko und in den Kosovo verbunden und auch im Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung steht unter der Rubrik Pflege und Gesundheit: „Wir vereinfachen und beschleunigen die notwendige Gewinnung von ausländischen Fachkräften und die Anerkennung von im Ausland erworbener Abschlüsse[1].“ Der Intensivmediziner Professor Christian Karagiannidis forderte jüngst in der Ärzte Zeitung „strukturierte Migration im großen Stil“.[2]

Die Abwerbung von Pflegekräften und Ärzt:innen nach Deutschland hat in den letzten zehn Jahren tatsächlich massiv zugenommen. Waren es 2013 noch 5,8% ausländische Pflegekräfte, so sind es 2022 bereits 11% [3]. Im Gegensatz zu Großbritannien, wo bereits seit Jahrzehnten Fachkräfte aus den ehemaligen Kolonien das Rückgrat des nationalen Gesundheitsdienstes NHS bilden, ist Deutschland relativ neu in das weltweite Ringen um Gesundheitsfachkräfte eingestiegen.

Blicken wir 50 Jahre zurück, gab es aber durchaus bereits große Abwerbeprogramme: Insgesamt ca. 10.000 koreanische Pflegekräfte wurden ab den 60ern als Gastarbeiter:innen nach Deutschland geholt, um den Mangel von ca. 50.000 Pflegekräften auszugleichen.[4] Sie wurden als „mandeläugige Engel“ mit „zierlicher Gestalt“ und sanftem Gemüt exotisiert und versprachen das Sinnbild der genügsamen, lächelnden, anspruchslosen, (natürlich weiblichen) Sorgearbeiterin zu sein.

In Korea hatte die Abwerbung Versorgungsmängel und Veränderungen im Gesundheitssystem zur Folge. Tausende junge Frauen wurden extra für Deutschland zu Pflegehelferinnen ausgebildet. Entgegen den Abkommen wurden jedoch fast nur akademisch ausgebildete Pflegekräfte rekrutiert, sodass die schlechter ausgebildeten Hilfskräfte irgendwie ins koreanische Gesundheitssystem integriert werden mussten[5].

1978 wurde nach Einführung des Krankenkassen-Kostendämpfungsgesetzes beschlossen, dass es in Deutschland nun genug Krankenschwestern gab. Die Abwerbung wurde gestoppt und viele „Engel“ sollten wieder abgeschoben werden[6].

Doch schon wenig später wurden wieder Pflegekräfte gebraucht. Ab den 80ern konzentrierten sich Abwerbebemühungen jahrzehntelang vor allem auf Osteuropa, wo die massenhafte Auswanderung von Gesundheitsfachkräften die Gesundheitssysteme ausbluten ließ.

Der weltweite Mangel an Gesundheitsfachkräften und das ungerechte Ringen der einzelnen Länder um sie ist nicht neu. Um der wachsenden Ungleichverteilung entgegenzuwirken, wurde 2010 von der WHO mit dem „Global Code of Practice on the International Recruitment of Health Personel“ ein Rahmen geschaffen, der die negativen Folgen der Abwerbung von Gesundheitsfachkräften mildern soll. Das freiwillige Abkommen besteht im Wesentlichen aus drei Säulen[7]:

  1. Der Verpflichtung, das nationale Gesundheitssystem durch eine nachhaltige Gesundheitspersonalentwicklung möglichst autark zu machen und den Bedarf an ausländischen Fachkräften zu halbieren.
  2. Der Empfehlung, nicht aus Ländern mit einem kritischen Mangel abzuwerben.
  3. Maßnahmen zu treffen, um Gesundheitsfachkräfte gerade in unterversorgten Gebieten, im Job zu halten oder in den Job zurückzuholen.

Auch Deutschland hat sich 2010 verpflichtet, sich an den Kodex zu halten. Wenn wir uns aber rückblickend die Gesundheitspersonalpolitik und die Entwicklung der Abwerbepolitik in den folgenden Jahren ansehen, wirkt das fast zynisch. Pflegekräfte sind in der Zwischenzeit massenhaft aus ihren Jobs ausgestiegen, weil sie die Arbeitsbedingungen nicht mehr ertragen konnten und auch Ärzt:innen fehlen an allen Stellen.

Zugleich nahm ab 2012 die systematische weltweite Abwerbung von Gesundheitsfachkräften Fahrt auf, wobei sich die Bundesregierung auf die Negativliste des WHO-Kodex als Absicherung beruft, alles richtig zu machen. Aus der absoluten Mindestforderung ist damit der einzige Teil des Kodex geworden, der eingehalten wird. Als Anhang von §38 der Beschäftigungsverordnung wurde die Liste in geltendes deutsches Recht überführt.

2013 wurde der deutsche Arbeitsmarkt für Pflegekräfte aus Drittstaaten geöffnet. Durch die deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) wurden die „Triple Win“ Programme[8] ins Leben gerufen, die mittels staatlicher, bilateraler Abkommen die Beschaffung von Pflegekräften aus Serbien, Bosnien-Herzegowina, den Philippinen und Vietnam ermöglichen. 2021 kamen neue Verträge mit Indien (Bundesstaat Kerala), Brasilien und Indonesien zustande.

Während „Triple Win“ als Vorzeigeprogramm gehandelt wird, weil es tatsächlich einige Mindeststandards erfüllt, ist es ziemlich teuer. Die allermeisten Gesundheitsfachkräfte (ca. 75%) werden deshalb nicht durch staatliche Programme, sondern durch eine unüberschaubare Anzahl privater Agenturen abgeworben. Dass deren Praktiken teilweise höchst fragwürdig sind, hat ein Rechercheteam von correctiv 2020 dokumentiert.[9] Vor allem hohe Gebühren, die zurückgezahlt werden sollen, wenn eine Fachkraft sich entschließt, vor Ablauf einer Mindestzeit aus dem Arbeitsvertrag auszusteigen, stehen als Form der „modernen Schuldknechtschaft“ in der Kritik.[10]

Innerhalb der EU wurde während der Euro-Krise aus Italien, Spanien und Griechenland abgeworben. Doch da viele Fachkräfte wieder zurück in ihre Heimatländer kehrten – nicht zuletzt wegen den schlechten Arbeitsbedingungen in deutschen Krankenhäusern – konzentrieren sich die deutschen Abwerbebemühungen in Europa aktuell wieder auf den Westbalkan und Osteuropa. Dort fehlen die ausgewanderten Fachkräfte.

Aus Rumänien sind zwischen 1990 und 2014 ca. 21.000 Ärzt:innen und mindestens 21.500 Pflegekräfte ausgewandert[11]. Von diesen Ärzt:innen arbeiten ca. 4500 aktuell in Deutschland[12]. Das sind etwas mehr als 1% der Ärzt:innen in Deutschland, aber ca. 10% der Ärzt:innen in Rumänien[13].

Die Herkunftsländer, Ausbildungen und Wege von rekrutierten Ärzt:innen und Pflegekräften sind vielfältig. Allen gemeinsam ist, dass sie im deutschen Gesundheitssystem dort landen, wo sonst keiner arbeiten will.

Der Anteil ausländischer Ärzt:innen in verschiedenen deutschen Bundesländern spricht für sich: Hamburg bildet mit 6,8 Prozent das Schlusslicht, obwohl 16,8 Prozent der Hamburger:innen eine ausländische Staatsbürgerschaft haben. Im Flächenbundesland Brandenburg hingegen haben 15,5 Prozent der Ärzt:innen, aber nur 4,8 Prozent der Bevölkerung eine ausländische Staatsbürgerschaft[14]. Ein starker Hinweis darauf, wo ausländische Bewerber:innen Stellen finden: in den kleinen, ländlichen Krankenhäusern, die händeringend nach Personal suchen.

Dass ausgerechtet da, wo das Personal sehr knapp ist, der Anteil an ausländischen Kräften mit teilweise unzureichenden Sprachkenntnissen und anfänglichen Unsicherheiten über Arbeitsabläufe und Verantwortungen sehr hoch ist, verursacht erhebliche Probleme.

Falsche Medikamente werden verabreicht, wichtige Informationen gehen verloren und die Kommunikation mit Patient:innen ist erschwert. Die Schuld wird nicht selten bei den ausländischen Kolleg:innen gesucht. Zeitmangel und eine kaum zu stemmende Arbeitsdichte sind ein wunderbarer Nährboden für Rassismus, der von den Klinikleitungen zumindest in Kauf genommen wird, wenn sie Fachkräfte mit unzureichenden Deutschkenntnissen anwerben, obwohl sie keine auch nur annähernd ausreichende Einarbeitung gewährleisten können.

In einem gut funktionierenden Gesundheitssystem könnten wir von den Erfahrungen ausländischer Kolleg:innen lernen und unsere Patient:innen von ihren Fremdsprachen-Kenntnissen profitieren. Doch dafür braucht es (Fach-)Sprachkurse auf hohem Niveau und dann vor allem Zeit und Raum für eine gelungene Einarbeitung.

Es bleibt zu hoffen, dass die Abwärtsspirale gestoppt wird, die mit der Ökonomisierung der stationären Versorgung in den letzten ca. 20 Jahren einherging und die zu vielen Jobausstiegen und wachsender Arbeitsdichte in den Kliniken geführt hat. Doch auch zumindest kurz- und mittelfristig können Personalbemessungsgrenzen auch dazu führen, dass die Abwerbung von ausländischen Fachkräften noch weiter ausgebaut wird. Unsere Forderungen nach einer Ausfinanzierung und Selbstkostendeckung des stationären Sektors und einer konsequenten Verbesserung der Arbeitsbedingungen müssen deshalb verbunden sein mit einem international solidarischen Blick auf andere Gesundheitssysteme.

Unsere ausländischen Kolleg:innen sind nicht schuld an den Bedingungen, unter denen wir im Krankenhaus zusammenarbeiten. Sie sind auch nicht die exotisierten, genügsamen Arbeitskräfte, die fügsam alle Lücken im deutschen System füllen.

Was vor 50 Jahren für die Gastarbeiter:innen galt, gilt auch heute noch für unsere rekrutierten Kolleg:innen auf Station: „Wir haben Arbeiter:innen gerufen, aber es kamen Menschen“.

Als Beschäftigte im Gesundheitssystem müssen wir Macht über die Bedingungen bekommen, unter denen wir arbeiten. Und dabei müssen wir mit unseren Kolleg:innen zusammenarbeiten, die hierher geholt wurden, um das schlechte System weiter am Laufen zu halten.

Auch die koreanischen „Engel“ von vor 50 Jahren sind schlussendlich nicht passive Spielfiguren geblieben, die man nach Belieben herumschieben konnte. Deutschlandweit organisierten sie Ende der 70er Widerstand gegen die drohenden Abschiebungen. Mittels Unterschriftenaktionen und politischen Kampagnen konnten sie tatsächlich ein unkündbares Bleibe- und Arbeitsrecht für Koreaner:innen in Deutschland erkämpfen. Daraus erwuchs 1978 die „Koreanische Frauengruppe in Deutschland“. Sie sagten: „Wir kamen hierher, weil deutsche Krankenhäuser uns benötigten. Wir sind keine Handelsware. Wir gehen zurück, wenn wir wollen.“

Rekrutierung von Gesundheitsfachkräften nach Luxemburg

von Raymond Wagener

Auch in Luxemburg gibt es ein massives Problem bei der Rekrutierung von Gesundheits- und Pflegefachkräften für das Gesundheitssystem und die Pflegeeinrichtungen. In Luxemburg werden bei Weitem nicht genügend Fachkräfte ausgebildet, um die nationale Bedürfnisse zu decken. Im Gegensatz zu Deutschland und Großbritannien, wirbt Luxemburg allerdings keine Fachkräfte im globalen Süden ab. Da das Land klein ist und die Löhne höher sind als in den umliegenden Ländern, stellt Luxemburg massiv Pflegekräfte aus den benachbarten Gegenden in Frankreich, Deutschland und Belgien ein. So arbeiteten im März 2022 9876 Angestellte im Krankenhaussektor, davon 2602 Grenzgänger aus Frankreich, 1203 aus Belgien und 860 aus Deutschland. Der Anteil der Angestellten, die in Luxemburg wohnen, fiel von 57,9% in 2018 auf 52,8% in 2022. Damit wird allerdings der Mangel an Fachkräften in Luxemburg in die benachbarten Regionen der drei angrenzenden Länder exportiert.

 

 


Notes:

[1] https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/koalitionsvertrag-2021-1990800 „Mehr Fortschritt wagen“.

[2] https://www.aerztezeitung.de/Politik/Karagiannidis-Fachkraeftemangel-wohl-groessere-Belastung-als-Corona-Pandemie-435221.html

[3] https://www.wemos.nl/en/report-on-health-worker-migration-and-mobility-in-germany/

[4] Friedrich Ebert Stiftung/Korea Verband/Koreanische Frauengruppe in Deutschland/ver.di: Krankenpflegerinnen.pdf“.

[5] ibid

[6] ibid

[7]Sixty-third World Health Assembly – WHA63.16, „The WHO Global Code of Practice on the International Recruitment of Health Personnel“.

[8] https://www.arbeitsagentur.de/vor-ort/zav/uber-triple-win/triple-win-das-projekt

[9] https://correctiv.org/top-stories/2020/11/25/wie-dubiose-vermittler-auslaendische-pflegekraefte-zur-ware-machen/?lang=de

[10] ibid

[11] Pillars of Health: Country-report-on-health-worker-migration-and-mobility_romania

[12] https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/BAEK/Ueber_uns/Statistik/2021/2021_Statistik.pdf

[13] Pillars of health: Country-report-on-health-worker-migration-and-mobility_romania

[14] https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/BAEK/Ueber_uns/Statistik/2021/2021_Statistik.pdf