Interview mit Christiane Walerich, Terra – Terra ist eine „Solidarische Landwirtschaft“, die seit 2014 besteht. Auf dem Eicherfeld bei Luxemburg-Stadt gelegen, produziert das Team von Terra ohne Pestizide oder chemische Dünger sowie dem No-Dig-Verfahren wöchentlich rund 250 Gemüsekörbe für seine Mitglieder. Viel Wert wird auf die Aufwertung des Bodens gelegt, rund 300 Gemüse-, Obst- und Blumenarten befinden sich im Garten.
Was verstehen Sie unter der gegenwärtigen Nahrungsmittelproduktion im In- und Ausland?
Große Handelsketten für Lebensmittel gab es in den USA spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts, Supermärkte im heutigen Sinne mit Selbstbedienung und einem Lebensmittel-Komplettangebot wurden Anfang der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch in Europa gegründet. Seit den 1950er Jahren entstanden die großen Einkaufszentren oder Shopping Malls auf der grünen Wiese.
In dieser neuen Verkaufsform wurden Waren hochgestapelt; Preise wurden ausgezeichnet und waren nicht mehr verhandelbar. Fertig abgepackte Waren sowie Markennamen nahmen Einzug in die Läden. Supermärkte suggerieren, dass die Auswahl groß und die Preise günstig sind, was auch das Kaufverhalten der Kunden beeinflusst.
Diese neue Logik des Einkaufens entsprach dem Optimierungsdrang, der seit der Industrialisierung in vielen Lebensbereichen Einzug gehalten hatte, der letztlich auch dazu führte, dass Verbraucher/Innen aus ihrer Verantwortung entlassen wurden. Versorgung wurde an andere delegiert. Jedoch: Konsum schafft Distanz.
Gleichzeitig hat die Politik durch eine subventionierte Mechanisierung und Intensivierung der Landwirtschaft mit dazu beigetragen, billig zu produzieren und Monokulturen zu fördern. Supermärkte haben ein Interesse an großen Quantitäten zu niedrigen Preisen. Die Vorteile der modernen industriellen Lebensmittelproduktion hängen weitgehend von billigen, schnellen Transporten ab sowie begrenzter Produktvariabilität.
Dabei passiert dreierlei: Nicht nur die Umwelt bleibt auf der Strecke – auch werden Landwirt/innen weder für die Qualität ihrer Produkte entlohnt, noch werden ihre Arbeitsstunden bezahlt. Zweitens werden Konsument/innen an billige (und gesundheitlich bedenkliche) Lebensmittel gewöhnt und zunehmend von der Natur entfremdet. Drittens haben Subventionen dazu geführt, dass es zur Überproduktion gewisser Lebensmittel kam, die nicht mehr regional vermarktet werden, sondern z. T. ins ferne Ausland (etwa als Pulvermilch) exportiert werden.
Die Produktion der Lebensmittel braucht jedoch faire Absatzmärkte: Reinen Produzent/innenmärkten (Farmer’s markets) müssten gegenüber Supermärkten massive Standortvorteile eingeräumt werden, sodass lokale Produzent/innen ihre Waren zu einem gerechten Preis direkt an Konsumenten verkaufen können und sowohl ihre Arbeitsleistung als auch ihren Dienst an der Natur entlohnt wird.
Produzent/innenmärkten existieren heute weltweit und spiegeln lokale Kultur und Öhkonomie wider. Durch den direkten Verkauf an Verbraucher benötigen Produkte zudem kürzere Transportwege, eine geringe Handhabung, keine Kühlung oder Lagerzeit. Die Bauernmärkte tragen dazu bei, wichtige soziale Bindungen aufrechtzuerhalten, indem sie die ländliche und städtische Bevölkerung oder Nachbarn miteinander verbinden, auch nahegelegene Unternehmen können von den Kunden profitieren.
Für die Verbraucher bedeutet ein Produzent/innenmarkt frischere, saisonale, gesündere sowie eine bessere Auswahl an Lebensmitteln z.B.: weniger transportunempfindliche Sorten, Weidefleisch, Eier und Geflügel aus Freilandhaltung, handgemachter Bauernkäse etc. Und der Konsument bekommt die Probleme der Produktion aus erster Hand mit.
Eine weitere Vermarktungsform, die die Unabhängigkeit des Direktverkaufs garantiert und zudem die Transparenz und Unmittelbarkeit zwischen Landwirt und Konsument fördert, ist die Solidarische Landwirtschaft (Solawi). Bei diesem System – auf dem auch TERRA basiert – zahlen die Verbraucher die landwirtschaftlichen Betriebe saisonal, um wöchentliche Gemüsekisten zu erhalten. Statt auf Subventionen und Zwischenverkäufer basiert das Konzept auf Solidarität und verantwortungsbewusstem Konsum.
Welches sind die Trends, die unseren Zugang zu Lebensmitteln jetzt und in naher Zukunft in Luxemburg und im Ausland beeinflussen?
Hört man die Nachrichten im Radio, so wurde dieses Jahr oft vom schönen Wetter berichtet. Seit mindestens drei Jahren jedoch durchläuft Luxemburg wie so viele andere Länder eine Trockenheit. Der Klimawandel ist nicht mehr zu leugnen. Wetterextreme nehmen zu, wohl auch durch die viel diskutierten Veränderungen in den Meeresströmungen.
Im Garten von TERRA merken wir die extremen Klimabedingungen unmittelbar. Gemüse und Früchte bleiben in trockenen Sommern deutlich kleiner als in Sommern, in denen es genügend Wasser gibt. Klimawandel und der damit verbundene Temperaturanstieg bedeuten für die Gärtner grundsätzlich nicht nur ein hoher Verbrauch von Wasser, sondern auch dass Kulturverfahren verändert und bestimmte Kulturen nicht mehr angebaut werden können.
Bei Stress – wie einer Hitzewelle – schalten einige Pflanzen in den Überlebensmodus und bilden gleich Blüten rsp. Saatgut aus. Auch Direktaussaaten im Freiland funktionieren bei 35 Grad Celsius und mehr nur noch bedingt, der Gärtner wird gezwungen die Pflanzen vermehrt in Anzuchtplatten vorzuziehen und in einem weiteren Schritt als Jungpflanzen auszupflanzen.
Ein weiteres Problem ist die Austrocknung des Bodens: Zu wenig Wasser bedeutet nicht nur, dass Pflanzen Durst haben, sie hungern auch. Es ist der Boden mit seinen Millionen Lebenswesen, der die Nährstoffe der Pflanze zur Verfügung stellt. Bei Trockenheit jedoch sind Bodenbakterien in ihrer Anzahl und in ihrer Aktivität eingeschränkt: Ohne Wasser können die Nährstoffe nicht mehr zu den Pflanzen transportiert werden.
Das gleiche gilt für Bäume – Bäume sind ein wichtiger Bestandteil bei Terra. Nicht nur da sie Obst liefern – sie spenden auch Schatten und sorgen für ein spezielles Mikroklima, zudem sind sie Heimat vieler nützlicher Insekten und Vögel. Lange anhaltende Trockenzeiten dagegen schwächen das Immunsystem der Bäume und machen sie anfällig für Schädlinge und Krankheiten. Ihr Absterben bedeutet eine grössere Versteppung der Landschaft.
Resilienz bedeutet dagegen die Wertschätzung von Wasser, Biodiversität, einer gesunden Umwelt und einer nachhaltigen Landwirtschaft sowie einer Politik der gesellschaftlichen Entschleunigung (statt des ewigen Wachstums).
Das bedeutet, dass die Regierung der Landwirtschaft gegenüber anderen Berufsfeldern, die keine Grundbedürfnisse decken, dringend neue Prioritäten einräumen muss. Kontraproduktiv sind hier auch gerne Freihandelsabkommen, die oft zu neuen Abhängigkeiten führen. Auch der Umweltbildung müsste mehr Raum gegeben werden, um der Entfremdung zur Natur entgegenzusteuern.
Wie ist die Situation in Luxemburg in Bezug auf die Ernährungsunabhängigkeit?
Luxemburg importiert mehr als 90 Prozent seines Obstes und Gemüses – und exportiert einen Grossteil seiner Milchproduktion. Nicht nur bedeutet diese Abhängigkeit eine Umweltbelastung durch lange Transportwege – gerade die Corona-Krise hat gezeigt, wie wichtig es ist, autonom zu sein.
Dass dies auch auf ganz kleinen Flächen möglich ist, hat TERRA längst bewiesen.
So hat die Solawi binnen einem halben Jahr (April bis August) auf einer Fläche von 0,5 Hektar 21 Tonnen nachhaltig (pestizidfrei, ohne chemische Dünger rsp ohne Maschinen) produziertes Obst und Gemüse hergestellt.
Es ist also machbar, auch auf sehr kleinen Flächen sehr hohe Erträge im Einklang mit der Natur zu erwirtschaften – Vorrausetzung ist allerdings, dass Konsumenten den korrekten Preis für die Lebensmittel zahlen, um die Arbeitskraft und die Dienstleistung an der Natur zu entlohnen.
Das luxemburgische Umweltobservatorium hat soeben einen Bericht veröffentlicht, in dem vor dem alarmierenden Verlust der Artenvielfalt gewarnt wird, die in einigen Jahren aussterben wird. Was ist Ihre Perspektive? Was halten Sie von dieser beunruhigenden Nachricht?
Heute zerstört die Landwirtschaft oft den Boden, produziert viele Treibhausgase (etwa durch Düngung), verschmutzt das Wasser, verbraucht enorme Quantitäten an Benzin, Öl und Chemikalien, die zudem oft über grosse Distanzen zu den Farmen transportiert werden. Die Natur wird eher ausgebeutet – statt „kultiviert“. Würde man einen Preis auf die ökologischen Dienstleistungen setzen (z.B. CO2-Speicherung im Boden oder in den Bäumen etc.) die durch eine ungesunde Landwirtschaft entstehen, dann würde sich die konventionelle Landwirtschaft nicht mehr rechnen.
Leider ist auch die heutige Biolandwirtschaft oft noch zu eng gefasst. So wird der Faktor Klimaneutralität oder das Element Biodiversität nicht in jedem Label mitbedacht. Belohnt wird nicht derjenige, der zusätzlich Hecken, Bäume oder Blumen für verschiedene Bestäuber anlegt. Eine Landwirtschaft kann biologisch geführt sein und dennoch Monokulturen produzieren. Die regenerative Bodenaufwertung wird meist nicht als Plus angerechnet.
Nach wie vor wird heute viel zu selten auf die Biologie des Bodens geschaut – dabei ist die Erde, der einzig bekannte Planet in unserem Kosmos, der Biologie im Boden aufweist. Dagegen fokussiert sich der Mensch auf die Chemie in der Landwirtschaft und hat so den größten Teil der Böden im letzten Jahrhundert zerstört.
Es gibt rund 200.000 verschiedene Bodenarten weltweit, doch der Mensch behandelt sie alle gleich: Die Bodenbearbeitung, insbesondere das aktive Pflügen des Bodens, das oft als grundlegender Akt der Landwirtschaft betrachtet wird, erweist sich tatsächlich als eines der zerstörerischsten Elemente, die dem Boden auf lange Sicht angetan werden können.
Seit dem sogenannten „Dustball“ in den USA, einer grossen Staubwolke, die in den 1930er über den Mittleren Westen der USA gezogen ist, und bewirkt hat, dass es sogar in New York City und Washington dunkel wurde, hat sich wenig verändert. Ausgelöst wurde die Staubwolke damals durch eine lange Trockenzeit sowie den Wind, der über die frisch gepflügten Felder gefahren ist und den Mutterboden abgetragen hat.
Schon heute haben wir etwa 50 Prozent der organischen Substanz im landwirtschaftlichen Mutterboden abgebaut. Der Boden ist das Sparkonto der Landwirtschaft – wenn wir den Boden schneller erodieren als wir ihn wieder aufbauen – geht uns der fruchtbare Boden unter den Füssen verloren…
Pflügen ist gegensätzlich zu dem, wie Natur funktioniert: Hier ist der Boden immer bedeckt. In einem gesunden Boden sind zudem viele Mikroorganismen und Würmer, die einerseits die Bodenstruktur durch ihre Exkremente zusammenkleben und andererseits für eine gute Durchlüftung sorgen – wodurch schnell Wasser aufgenommen und Erosion verhindert werden kann. Ein mit Pflanzen bedeckter Boden braucht zudem weniger Bewässerung und durch die Fotosynthese wird die Biologie im Boden gefüttert.
Ein gesunder Boden mit viel organischem Material und Nährstoff-Austausch ist resilienter gegenüber dem Klimawandel. Studien gehen davon aus, dass 1/3 des CO2, das seit der industriellen Revolution in die Erdatmosphäre gelangt ist, auf die Zersetzung organischer Stoffe aufgrund des Pflügens in Europa und in den USA zurückzuführen ist.
Anstatt in die Atmosphäre freigesetzt zu werden, kann CO2 durch biologisches Management im Boden verbleiben, indem es von Mikroben abgebaut und als Pflanzennährstoffe zur Verfügung gestellt wird. Nachhaltiges Management würde die Ökologie der Betriebe verbessern, den Einsatz von Nitraten und Phosphor im Trinkwasser reduzieren und das Wirtschaften in der Landwirtschaft insgesamt billiger machen.
Die Landwirtschaft ist heute mit viel Investition verbunden – bei einer geringen Gewinnspanne. Viele Kosten werden durch chemische Düngemittel, Pestizide und Diesel verursacht – diese sind in den letzten Jahren teurer geworden, während die Lebensmittelpreise immer weiter gesunken sind. Dabei zerstören gerade auch chemische Dünger und Spritzmittel das Bodenleben und unterbinden den Kreislauf der Nährstoffzersetzung – Biomasse und Mikroorganismen gehen verloren.
Insgesamt scheint es noch ein langer Weg, um Landwirte zu einem regenerativen Anbau zu ermutigen: Gerade da staatliche Subventionen oft immer noch das genaue Gegenteil finanzieren – große konventionelle Monokulturen.