Lassen Sie uns einen neuen Blick auf einige der gängigen Konzepte zur Klimakrise und Klimagerechtigkeit werfen, die wir für selbstverständlich halten.
1. Die Klimakrise – eine Sache der Wissenschaftler?
Glaubt man den Meinungsführern, so ist die Menschheit erst in den letzten Jahrzehnten auf die anthropogenen Ursachen des Klimawandels aufmerksam geworden. Sie stimmen zwar darin überein, dass die aufeinanderfolgenden industriellen Revolutionen die Erde verändert haben, kommen aber direkt zu dem Schluss, dass diese Auswirkungen ohne das Wissen der Menschen eingetreten sind. Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts setzte mit den Enthüllungen der Klimaforscher und Ökologen, die als Pioniere dargestellt werden, ein Bewusstsein für diese Problematik ein. Erst im Jahr 2000 benutzte der Wissenschaftler Paul Crutzen erstmals den Begriff „Anthropozän”, ein vom Menschen dominiertes Erdzeitalter. Die logische Konsequenz dieser großen Erzählung ist die Schlussfolgerung, dass wir nun, da wir es wissen, auch die passenden Lösungen finden werden. Die Bewältigung der Klimakrise wäre also in erster Linie eine Frage des Wissens und der Wissenschaft.
Christophe Bonneuil und Jean-Baptiste Fressoz (L’événement Anthropocène, Éditions du Seuil, 2013) haben gezeigt, dass diese Darstellung nicht nur falsch, sondern auch irreführend ist. Falsch, weil zahlreiche Wissenschaftler bereits im 19. Jahrhundert die Auswirkungen der industriellen Tätigkeit auf das Klima festgestellt haben und ihre wissenschaftlichen Arbeiten nicht vertraulich waren. Irreführend, weil die Autoren in dieser Erzählung versäumen, die gesellschaftlichen Kräfte zu benennen, die dazu beigetragen haben, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht zu einer angemessenen Reaktion geführt haben. Wer diese Dimension der Geschichte nicht diskutiert, vernachlässigt die Frage, was heute die wirklichen Hindernisse für eine Antwort sind, die den Herausforderungen der Klimakrise gerecht wird. Die Klimadebatte beschränkt sich nicht auf den wissenschaftlichen Bereich. Sie ist zutiefst politisch.
„Es ist dieses ganze Arsenal an Warnungen und Widerständen, das wir in der Vergangenheit ausfindig machen müssen, um eine dynamische Lesart vorzuschlagen, die politisch weniger naiv ist als die große Erzählung des plötzlichen Bewusstseins. Anstatt die Umweltreflexivität der Vergangenheit auszulöschen, müssen wir verstehen, wie wir trotz sehr konsistenter Warnungen, Erkenntnisse und Widerstände in das Anthropozän eingetreten sind, und eine neue, glaubwürdigere Erzählung dessen schmieden, was uns widerfahren ist.” (L’événement Anthropocène, S. 97). Michaël Lucas |
2. „Dürren, Hungersnöte: Schicksalsschläge, die den globalen Süden heimsuchen”. Tatsächlich Schicksalsschläge?
„Hungersnöte als Folge von Dürren und anderen Naturkatastrophen sind für die Menschen des Globalen Südens leider Schicksal. Der Globale Norden hilft, wo und wie er kann, um die Not der Betroffenen zu lindern.“
Mike Davis (Late Victorian Holocaust. El Niño Famines and the Making of the Third World) analysierte die Hungersnöte, die Indien, Südostasien und Brasilien Ende des 19. Jahrhunderts in drei Perioden heimsuchten. Seine Schlussfolgerungen sind aufschlussreich: die Auswirkungen der Dürren und das Ausmaß der Hungersnöte – die Zahl der Todesopfer wird auf 30 bis 60 Millionen geschätzt – sind das Ergebnis der von den Kolonialregimes geschaffenen Mechanismen der Abhängigkeit und der Aneignung von Ressourcen auf Kosten der lokalen Bevölkerung (Getreideproduktion und -vorräte wurden nach London und in andere Zentren der internationalen Märkte exportiert) und der Zerstörung der traditionellen Solidaritätsmechanismen. „Man hat nun (…) allen Grund zu der Annahme, dass es die erzwungene Integration der einheimischen ländlichen Wirtschaft in den Weltmarkt seit 1850 war, die die Bauern und Landarbeiter gegenüber den Risiken von Naturkatastrophen ernsthaft geschwächt hat.“
Ist die Situation heute anders? Die Entfremdung der Menschen des Globalen Südens von ihrem Lebensraum, die Aneignung ihrer Ressourcen, die Störung des natürlichen Gleichgewichts und der Solidaritätsmechanismen, die die Ausbreitung des heutigen produktivistischen Systems mit sich bringt, machen sie besonders anfällig für Naturkatastrophen. Hungersnöte sind auch heute noch soziale Krisen und keine Naturkatastrophen, wie Michael Watts (Silent Violence: Food, Famine and Peasantry in Northern Nigeria) betont. Mike Davis setzt seine historische Forschung fort und stellt gemeinsam mit anderen Historikern fest, dass die imperialen Regime, allen voran die Briten, jede Hungersnot in den späten 1800er Jahren nutzten, um neue Eroberungen zu machen und ihre Herrschaft über geschwächte Bevölkerungen zu festigen. „Die großen Hungersnöte der viktorianischen Zeit waren Transformatoren und Beschleuniger der gleichen sozioökonomischen Kräfte, die ihr Auftreten begünstigt hatten.“ In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand mit der neuen Welle der primitiven Kapitalakkumulation in Indien, China und Lateinamerika die Kluft zwischen dem Westen und der späteren Dritten Welt. Bis dahin, so der Historiker und Geograph, war der durchschnittliche Lebensstandard der Völker in den verschiedenen Teilen der Welt ähnlich hoch. Michaël Lucas |
3. CO2-Fußabdruck: du bist schuld, oder?
Nicht zu bestreiten ist, dass CO2-Fußabdruck-Rechner heute allgegenwärtig sind und diese Rechner in unterschiedlichen Versionen und mit unterschiedlichen Rechenmodellen sowohl von staatlichen Institutionen, als auch von Unternehmen der Finanzbranche und sogar von Nichtregierungsorganisationen wie dem WWF oder Greenpeace angeboten und zu Sensibilisierungszwecken genutzt werden.
Tatsächlich kann der Fußabdruck dabei helfen, Bewusstsein für Klimaschutz zu schaffen. Gerade für Menschen, die eine gewisse Offenheit gegenüber dem Thema mitbringen, kann der Fußabdruck durchaus ein sinnvolles Instrument sein. Der Fußabdruck kann bei jenen für Aha-Effekte sorgen und einen Anstoß geben, gewisse Lebensbereiche zu ändern.
Was ist die Geschichte dieses Tools und warum ist es problematisch?
„It’s time to go on a low carbon diet”, appellierte 2006 der Öl- und Gaskonzern BP auf seiner Homepage an alle User. Als Bestandteil seiner PR-Kampagne „Beyond Petroleum” (statt „British Petroleum”) bot das Unternehmen gleich neben dem Spruch einen carbon footprint calculator an. Dieses Ablenkungsmanöver von der eigenen Verantwortung als Unternehmen oder Industrie hin zur individuellen Entscheidung des Endverbrauchers ist ein altbewährtes Mittel und durch Kampagnen der Tabak-, Glücksspiel-, Pharma- und Rüstungsindustrie gut belegt. Die Verantwortung wird privatisiert und damit einhergehend das schlechte Gewissen. Die Botschaft hierbei lautet immer: dein Verhalten ist das Problem, also ändere es!
Selbstverständlich darf man hinterfragen, ob der PR-Trick von BP alleine den Siegeszug des CO2-Fußabdrucks ermöglicht hat und ob man die Botschaft gerade deshalb verurteilen sollte, weil sie von einem der größten Mitverursacher der Klimakrise manipulativ eingesetzt wurde. Fußabdrücke sind harmlos, man hinterlässt sie fast unweigerlich – ausgerechnet bei der klimaschonendsten Art der Fortbewegung. Das Denken in CO2-Fußabdrücken legt eine Logik des punktuellen Einsparens bei Glühbirnen, Fahrradtouren und Einkäufen nahe. Das Problem ist, dass notwendige systemische Umwälzungen und Änderungen der Produktionsweise höflich unerwähnt bleiben. Denn selbst wer auf kleinem Fuße lebt, hat nicht unbedingt einen klimaverträglichen Fußabdruck. Ein fiktiver Bürger Luxemburgs, der in einer kleinen Stadtwohnung lebt, Fernwärme und Ökostrom bezieht, vegan isst, kein Auto hat, keine Flugreisen unternimmt und sich beim Konsum zurückhält, kommt laut gängigen CO2-Rechnern immer noch auf fünf bis sieben Tonnen. Klimaverträglich wären aber rund 1,5 Tonnen. Die individuelle – man könnte auch sagen solipsistische – Perspektive allein reicht demnach nicht aus. Schlimmer noch, die gefühlte Ohnmacht, den eigenen CO2-Fußabdruck signifikant zu senken, kann zu Burnout, Erschöpfung und Solastalgie führen, da der Mensch als Konsument in seiner Macht begrenzt ist. Der CO2-Fußabdruck lenkt unsere Aufmerksamkeit von der Notwendigkeit groß angelegter systematischer Veränderungen ab, wie sie vom IPCC anerkannt werden. Er lenkt auch die Aufmerksamkeit von denjenigen ab, die am meisten für die Klimakrise innerhalb des Systems verantwortlich sind. Die folgenden Tweets geben einen Einblick in die Dissonanz zwischen dem CO2-Fußabdruck eines gewöhnlichen Menschen und der Verantwortung multinationaler Konzerne, die nicht zur Rechenschaft gezogen werden (BP war verantwortlich für die vermutlich größte Ölpest in der Geschichte der Erdölindustrie): ![]()
Cédric Reichel Quelle: |
4. Die Wechselwirkung von Parentifikation und Adultismus angesichts der Klimakrise
Seit die Demonstrationen der Schüler*innen von Fridays for Future uns die weitere Leugnung von Umweltzerstörung und Klimawandel unmöglich machen, stellt sich die Frage: Wie konnte es dazu kommen, dass gerade in der „aufgeklärten“ westlichen Welt so anhaltend die Augen vor der menschengemachten und katastrophalen Entwicklung verschlossen wurden? Welche inneren Abwehrmechanismen und psychosozialen kollektiven Phänomene sind daran beteiligt? Mit welcher mehr oder weniger bewussten Konfliktdynamik sind sie erklärbar? Auffallend ist, dass wie bei anderen „schlechten” Nachrichten auch zuerst der Botschafter bekämpft wird, nicht die Botschaft. Besonders eklatant sieht man dieses Shoot-the-Messenger-Prinzip beim Diskurs über die Protestform der selbstdeklarierten „Letzten Generation” in Deutschland.
Mit Parentifizierung wird in der Psychologie die Rollenumkehr zwischen Eltern und Kind bezeichnet. Bei der Rollenumkehr zwischen Elternteil und Kind kommt es demnach zu einer Diffusion der Generationsgrenzen im Familiensystem, das Kind übernimmt in überzogenem Maße „Elternfunktionen“. Die FFF-Bewegung kann als Parentifizierung verstanden werden, wenn von den Jugendlichen erwartet wird, Lösungen zu präsentieren und „richtig” zu handeln. Ein praktisches Beispiel hierfür findet man auch in den Materialien der Bildung für nachhaltige Entwicklung, die sich fast ausschließlich an ein junges Publikum richten. Oder wenn ein Politiker auf einer öffentlichen Veranstaltung dafür plädiert, dass „die Kinder von heute sofort die richtigen Gesten und Reflexe kennenlernen müssen, um nachhaltig zu handeln. Für Erwachsene ist dies schwerer.” Diese sicherlich ehrlich und gut gemeinten Ratschläge sind beispielhaft für das Phänomen der Parentifizierung in der Diskussion über die Klimakrise, bei der Erwachsene von Jugendlichen erwarten, dass sie Erwachsenenaufgaben übernehmen.
Gleichzeitig werden diese parentifizierten Jugendlichen dann jedoch bevormundet und abwertend beurteilt, wenn sie von den Erwachsenen erwarten, ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Traurige Berühmtheit erlangte hier ein Tweet auf Twitter (heute X) des aktuellen deutschen Finanzministers Christian Lindner der FDP: Dieser abwertende Adultismus (der Begriff Adultismus leitet sich vom englischen Begriff adult für Erwachsener ab) und benennt das ungleiche Machtverhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern/Jugendlichen. Denn Erwachsene gehen oft davon aus, dass sie allein aufgrund ihres Alters intelligenter, kompetenter, schlicht besser sind als Kinder und Jugendliche und sich daher über deren Meinungen und Ansichten hinwegsetzen dürfen. Dies ist umso perfider, als die Untätigkeit der Erwachsenen, u.a. der politischen Verantwortlichen in der Klimakrise, die Kinder gleichzeitig zwingt (Parentifizierung), die Aufgaben der Erwachsenen zu übernehmen. Ihre (nicht nur) dadurch entstehende Expertise wird dann wiederum durch Adultismus geleugnet. Transgenerationale Gruppen sollten den Kindern und Jugendlichen ermöglichen, aus ihrer Parentifizierung herauszukommen. Erwachsene sind aufgefordert, sich die berechtigte Kritik anzuhören, Verantwortung zu übernehmen und aktiv zu werden. Cédric Reichel |