Bei einem Systemwechsel geht es nicht nur um eine Änderung der Politik und der Infrastruktur. Es geht auch darum, die Art und Weise zu ändern, wie die Menschen denken, womit sie sich identifizieren, was sie fühlen und welche sozialen Normen akzeptiert werden, welche Erzählungen, usw.
– Kera Sherwood O’Reagan
Laut Kera Sherwood O’Reagan[1], bedeutet Dekolonialisieren (als kollektiver sozialer und politischer Prozess), dass wir alle unsere Beziehungen umgestalten müssen: eine andere Art, in der Welt zu sein. Wenn wir über unsere (persönlichen und kollektiven) Beziehungen zur Welt nachdenken, können wir verborgene koloniale Annahmen aufdecken. Betrachten wir hier einige der Beziehungen, die wir in Frage stellen können:
Der Andere. Die vielleicht offensichtlichste Beziehung ist die zum Anderen. Die europäischen/westlichen Konzepte der universellen Menschenrechte, der Demokratie und der Entwicklung zielen darauf ab, alle Menschen trotz ihrer Eigenschaften, Sprachen und Bräuche als gleich zu betrachten. In Wirklichkeit halten die modernen Institutionen, die diesen Konzepten zugrunde liegen, die Vorurteile von der Überlegenheit einiger (weißer, reicher und männlicher) Menschen und der Unterlegenheit der Mehrheit (meist nicht-weiße und nicht-männliche, aber nicht nur) aufrecht. Diese Vorstellungen werden für Dominanz und Unterdrückung genutzt. Andere zu dekolonialisieren bedeutet, unser gemeinsames Menschsein in seiner Vielfalt anzuerkennen und zu respektieren. Andere Menschen und alle lebenden und nicht lebenden Wesen nicht als Produkte, Objekte oder Ressourcen zu behandeln, die es auszubeuten gilt, sondern als Subjekte, mit denen wir koexistieren. |
Der ausgedehnte Raum. Hier geht es um unsere Beziehung zu der Welt, die uns umgibt. Er beinhaltet unser Erkennen und Verstehen der übergeordneten Dynamiken der Systeme, in denen wir uns befinden. Wir sind tief und unausweichlich in der lokalen Geografie und Gesellschaft, in die wir hineingeboren wurden, und in den Erfahrungen, die wir machen, verwurzelt (und doch sind wir auch Teil der großen Erdfamilie). Den Raum zu dekolonialisieren bedeutet, anzuerkennen, dass Menschen nicht von der kleinen, mittleren oder großen Welt getrennt, losgelöst oder unabhängig sind. Das Leben befindet sich in einem zerbrechlichen und feinen Gleichgewicht, das unsichtbar zu sein scheint, so unsichtbar wie die Luft, die wir atmen (und ohne die wir nicht länger als sieben Minuten überleben können). |
Die Zeit. Das koloniale Verhältnis zur Zeit ist das einer linearen Entwicklung hin zum Fortschritt, der durch die Herrschaft der “Aufgeklärten” über alles definiert wird. Es beinhaltet die Suche nach ewigem Wachstum und ewiger Jugend. Die Zeit zu dekolonialisieren bedeutet, langsamer zu werden, sich Zeit zu nehmen, um zu trauern, seine Sinne und Gefühle zu nutzen, sich um seine Verletzungen und Bedürfnisse zu kümmern. Es bedeutet auch, den Tod als Teil des Lebens zu akzeptieren. |
Die Wissenschaft, die Geschichte und andere Disziplinen. Die westliche Wissenschaft, Geschichte und andere Disziplinen werden als universelles Wissen verstanden. Dennoch bleiben sie unweigerlich ein soziales Konstrukt (von der Sprache und Geschichte bis hin zur Physik und Medizin) und tragen die Modelle und Strukturen der Kolonialmächte. Die Vorstellung von der Neutralität des westlichen Wissens verbirgt die Vorurteile, Annahmen und Interessen der Gesellschaft, die sie geschaffen hat. Diese Beziehung zu dekolonialisieren bedeutet, sie in Frage zu stellen, nicht mit dem Ziel, sie vollständig zu verwerfen, sondern um ihre Grenzen und Verzerrungen zu erkennen und es anderen Formen des Weltverständnisses zu ermöglichen, nebeneinander zu existieren, ohne entkräftet zu werden. |
Der Aufruf zum Dekolonialisieren ist so weitreichend, dass jede einfache, alltägliche Handlung analysiert und ihre Folgen über unser unmittelbares persönliches Vergnügen hinaus erkannt werden muss. Mit anderen Worten: der Aufruf zum Dekolonialisieren erfordert eine Neudefinition der persönlichen Identität, aber täuschen Sie sich nicht, es handelt sich dabei nicht um eine individuelle und einsame Suche. Wir sind von kolonialen Institutionen, Dynamiken und Werten umgeben, die (neo)koloniale Strukturen und Machtmodelle stärken und aufrechterhalten.
Dekolonialisieren bedeutet, anzuerkennen, dass jede Handlung politisch ist. Es erfordert, dass wir unsere persönliche und kollektive Verantwortung (ausgehend von unseren privilegierten und/oder unterdrückten Positionen innerhalb unserer Gemeinschaften) für den “Aufbau der Welt” und den “Willen der Gemeinschaft” (Mbembe) übernehmen. Sie beinhaltet kollektives politisches, wirtschaftliches und soziales Handeln. Auf diese Weise ist sie entstanden, wie der kollektive Kampf für Selbstbestimmung und Autonomie der Indigenen Völker, die bis heute Widerstand leisten, zeigt.
Sich zu dekolonialisieren ist in dieser kritischen Phase sehr wichtig. Dies bedeutet, dass wir uns jenseits von “Rasse, Hautfarbe oder Ethnie” (Mbembe) und sogar jenseits des “Schicksals der Menschheit” (Dubois, 1919) positionieren. Es erfordert, dass wir uns selbst demütig als Teil eines größeren Lebens betrachten.
Der Aufruf zum Dekolonialisieren wirft unweigerlich Fragen auf:
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„O mein Körper, mach aus mir ein Mensch, der sich immer selbst in Frage stellt.”
― Frantz Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken
Fußnoten:
[1] (Kera Sherwood O’Reagan, Maori-Aktivistin aus Neuseeland.
Quellen:
- Zur Dekolonialität, den Beziehungen und dem Zitat: Vortrag “Introduction to Decoloniality” von Kera Sherwood-O’Regan beim Festival of Ideas des Climate Action Network International, 14.03.2022.
- Zu den Fragen: Vortrag “Decolonizing Music Education” von Nate Holder, 22.06.2022 in Echternach, Luxemburg im Rahmen des Projekts Klang Keller von Finkapé und mit Unterstützung des Familienministeriums und der ASTM, u.a.
- Zur der Wissenschaft, der Geschichte und anderen Disziplinen: Linda Tuhiwai Smith “Decolonising methodologies”.