Selbsthilfen als „Teufelswerk“

Philippinen: Der seit fünf Jahren amtierende Präsident Rodrigo R. Duterte führt neben dem „Antidrogenkrieg“ einen erbitterten antikommunistischen Feldzug gegen alles „Linke“ – als ob es in Zeiten grassierender Pandemie, Korruption und Armut keine wirklichen Probleme gäbe.

 

Es war ein gewöhnlicher Mittwochmorgen, an dem Ana Patricia Non Geschichte schreiben sollte. Ein Tag, der eigentlich so zu verlaufen schien wie alle anderen vorangegangenen 400 tristen Tage auch – inmitten des weltweit vermutlich härtesten und längsten Lockdowns im Rahmen der Covid-19-Pandemiebekämpfung. An jenem 14. April verließ Ana Patricia Non ihre Wohnung in der Maginhawa Street in Quezon City, die Teil von Metro Manila ist und zur sogenannten National Capital Region gehört. Ein Moloch mit – zumindest tagsüber – reichlich 14 Millionen EinwohnerInnen.

Die 26-jährige Frau bugsierte einen kleinen Bambuswagen auf den Bürgersteig nahe ihrer Wohnung und bestückte ihn mit Gemüse, Reis- und Nudelpackungen, Konserven und Wasserflaschen. Mitgebracht hatte die junge Frau ein handgeschriebenes Pappschild, auf dem in großen Lettern „Maginhawa Community Pantry” geschrieben stand. Darunter in Filipino gekritzelt die Anweisung: „Gib‘ nach deinen Möglichkeiten, nimm‘ nach deinem Bedarf.”

„Pantry“ ist das englische Wort für „Speisekammer“. In Maginhawa wurde es über Nacht umgedeutet. Es meint nunmehr einfache, in Eigenregie gefertigte Stände, an denen die BetreiberInnen rationierte Portionen von Lebensmitteln kostenlos an bedürftige und hungernde Menschen verteilen. Ein Hoffnungsfunken, der rasch landesweit übersprang; mittlerweile ist bereits von etwa 1.500 solcher „pantries“ die Rede, die über den ganzen Archipel verteilt sind.

Miserables Krisenmanagement

Für die Regierung eine schallende Ohrfeige. Tatsächlich durchläuft die Republik der Philippinen ihre tiefste wirtschaftspolitische Krise seit Gründung des Staates am 4. Juli 1946. Immer mehr Menschen des mittlerweile annähernd 110 Millionen EinwohnerInnen zählenden Inselstaates hungern, weil die COVID-19-Pandemie neben einem rasanten Anstieg von Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung zum Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um knapp zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr führte. Die mit Abstand schlechteste wirtschaftliche Performance in der gesamten Region Ostasien/Westpazifik.

Ratingagenturen wie Capital Economics und Moody’s Analytics sowie die Weltbank und die in Manila beheimatete Asiatische Entwicklungsbank schätzten in ihren im ersten Quartal dieses Jahres publizierten Analysen und Lageberichten die COVID-19-Situation als „katastrophal” sei. „Die mangelnde Kontrolle der Pandemie, die Unfähigkeit, Impfstoffe zu beschaffen, und die relative Entfernung von den Exportlieferketten tragen dazu bei, dass die Philippinen zu den mit Abstand schwächsten Ländern der Region gehören”, konstatierte beispielsweise Moody’s Analytics in ihrem Report vom 18. April. Korruption im Gesundheitssektor und die vergleichsweise minimale Bereitstellung von 117 Milliarden Peso (umgerechnet ?!) für die Pandemiebekämpfung im Vergleich zu avisierten 1,1 Billionen Peso für ehrgeizige Infrastrukturvorhaben offenbaren zudem eine falsche Prioritätensetzung des Regimes. Gerade einmal vier Prozent des laufenden Staatsbudgets sind für die Bekämpfung von Covid-19 vorgesehen. Und nur 1,4 Prozent der Bevölkerung sind bis dato geimpft. Dieselben Institute gehen davon aus, dass das Land bis mindestens Anfang 2023 wirtschaftlich das Schlusslicht in der gesamten Region bleiben wird.

„In einem Staat wie dem unseren“, konstatierte Prinz Kennex R. Aldama, Sozialwissenschaftler und Vizepräsident der Philippinischen Soziologischen Gesellschaft, am 22. April im Onlinemagazin Rappler, „der keinerlei konkreten Pläne hat, um die Menschen vor der Pandemie zu schützen, die Armen zu ernähren und die Nation in diesen schwierigen Zeiten angemessen zu regieren, wird menschliche Sicherheit von den Menschen kaum erlebt. Individuell können wir versuchen, dies für uns zu sichern. Wir können uns zusammenschließen, wie im Fall der ‚community pantries‘, um unser Sicherheitsgefühl zu maximieren.“

„Aber das gesamte Spektrum der öffentlichen Sicherheit erfordert“, so Aldama weiter, „dass der Staat seine Funktion wahrnimmt: für die Sicherheit seiner Bürger zu sorgen. (…) die langfristigen Auswirkungen dieser Pandemie erfordern eine Reihe von Programmen und Maßnahmen, die unsere Mittel zum Überleben der Menschheit sichern: Nahrung, Gesundheit, Arbeitsplätze, Bildung und Technologie. Mit anderen Worten: Die Regierung muss die Komplexität der Probleme, die durch die Pandemie entstanden sind, effizient und angemessen angehen.“

Camaligan Community Pantry

 

Lauffeuer mit „Löschgerät“

So rasch die „community pantries“ Resonanz fanden, so reflexartig und knallhart erfolgten die Reaktionen der staatlichen „Sicherheits“kräfte. Vor allem seitens des Frontmanns in punkto „nationale Sicherheit und öffentliche Ordnung“, Generalleutnant Antonio G. Parlade, Jr. Gegenüber dem Lokalsender One News erklärte der General am 20. April: „Das ist eine Person, Anna, Patricia, richtig? Dasselbe mit Satan. Satan gab Eva einen Apfel. Da hat alles angefangen.“ „Ich beziehe mich nicht auf sie persönlich“, fügte Parlade hinzu, „ich beziehe mich auf die große Organisation, die vielleicht hinter all dem steckt. Wieso wurden sie (die ‚community pantries‘ – RW) plötzlich aus dem Boden gestampft? Warum haben sie nur ein einziges Thema?“

Für Parlade stand sofort fest, dass die „community pantries“ eigentlich „kommunistisches Teufelswerk“ sind, gesteuert aus dem politischen Untergrund. Sämtliche Regierungen in Manila seit der Ära des Despoten Ferdinand E. Marcos (1965-86) verfolgten das Ziel, die um die Jahreswende 1968/69 gegründete Kommunistische Partei der Philippinen (CPP) und deren Guerillaorganisation in Gestalt der Neuen Volksarmee (NPA) „aufzureiben“. Um diesen in der gesamten Region Südostasien längsten virulenten Konflikt zu beenden, unterzeichnete Duterte am 4. Dezember 2018 die Exekutivorder 70. Damit gilt fortan Counterinsurgengy (Aufstandsbekämpfung) als „gesamtnationale Aufgabe“. Der eigens zu diesem Zweck gebildeten Nationalen Task Force zur Beendigung des lokalen kommunistischen bewaffneten Konflikts (NTF-ECLAC) obliegt es, die staatliche Counterinsurgengy-Strategie bis zum Ende der Amtszeit Dutertes am 30. Juni 2022 erfolgreich umzusetzen – koste es, was es wolle. Dirigiert wird die NTF-ECLAC von hochrangigen Militärs und ehemaligen Generalstabschefs mit Duterte als ihrem Vorsitzenden und eben Parlade als ihrem Hauptsprecher.

Antikommunismus als Staatsdoktrin

In Personalunion ist der General aber auch Oberbefehlshaber des Südluzon-Kommandos der Streitkräfte (AFP), das in den südlich von Manila gelegenen Provinzen für die Counterinsurgengy verantwortlich ist. Dort kam es vor allem seit Jahresbeginn zu einer systematischen Hatz auf fortschrittliche Gewerkschafter, Arbeiter- und Bauernführer, Fischerleute sowie kritische StudentInnen, Kirchenleute und UmweltschützerInnen. Allein am 7. März, landesweit als „Blutsonntag“ bekannt, wurden im Großraum Manila neun SozialaktivistInnen erschossen und sechs weitere mit fadenscheinigen Begründungen verhaftet. Allesamt Opfer des „red-tagging“, der Brandmarkung als „terroristische KommunistInnen“, was zum Markenzeichen unter Parlade geworden ist.

Das Perfide daran ist die Tatsache, so Edre U. Olalia, Menschenrechtsanwalt und Präsident der Nationalunion der Volksanwälte der Philippinen (NUPL), im Interview mit dieser Zeitschrift: „Kritische, sozial engagierte Menschen werden durch ‚red-tagging‘ in akute Lebensgefahr gebracht; sie sind quasi zum Abschuss freigegeben. Gleichzeitig verschwindet jedwede Unterscheidung zwischen im Untergrund agierenden NPA-KombattantInnen und sich friedlich für soziale Belange einsetzende ZivilistInnen.“

Während Dutertes Amtszeit wurden laut Angaben der Freien Rechtsbeistandsgruppe (FLAG) allein 61 AnwältInnen, StaatsanwältInnen und RichterInnen getötet – mehr als alle registrierten tödlichen Angriffe auf AnwältInnen in den letzten 50 Jahren unter sechs vorherigen Präsidenten! Die meisten wurden bei der Ausübung ihrer Arbeit getötet. All das geschieht im Klima von Straffreiheit und im Zangengriff des am 3. Juli 2020 verabschiedeten Antiterror-Gesetzes (ATB 2020). Dessen Ausführungsbestimmungen installieren faktisch ein Kriegsrecht. Demnach kann jede Person, die des „Terrorismus“ verdächtigt wird, 24 Tage lang weggesperrt werden – ohne Rechtsbeistand und Anklageerhebung. Als „TerroristIn“ gilt bereits, wer öffentlich Dissens äußert, Handlungen des Regimes kritisiert oder wem es, wie Olalia kritisiert, „an staatskonformer Gesinnung mangelt“.

Bezeichnend ist denn auch der Umgang mit jenen, die gegen Quarantänebestimmungen verstoßen. Bereits am 1. April 2020 mit Beginn des Lockdowns forderte Duterte „seine Soldaten“ und „seine Polizisten“ – so wörtlich – auf: „Ich werde nicht zögern. Meine Order an die Polizei und das Militär (…) diejenigen, die Chaos stiften und Gegenwehr leisten, schießt sie tot!“ Diesen Appell wiederholte der Präsident zuletzt anlässlich eines Seminars der NTF-ECLAC in Cagayan de Oro auf der Südinsel Mindanao am 5. März 2021. Mit dem Zusatz, „Menschenrechte (zu) ignorieren“; notfalls werde er persönlich dafür die Konsequenzen tragen.

Bei Verstößen gegen die strikten Quarantäne-Verordnungen gelten drakonische Maßnahmen von sofortigem Wegsperren hinter Gittern bis zur physischen Liquidierung. So verwundert es nicht, dass heute bis an die Zähne bewaffnete Polizisten und Soldaten wie selbstherrliche Warlords die zahlreichen Armenviertel auf dem Archipel patrouillieren. Gleichzeitig dienen Letztere als makabre Kulissen solche Dokumentarfilme und Reportagen wie On the President’s Order (2019) und Dutertes Methoden im Schatten des Virus (2020).

In mehreren Online-Petitionen wird Duterte mittlerweile zum Rücktritt aufgefordert. „Die COVID-19-Pandemie hat sein Versagen in der Führung nur noch vergrößert“, heißt es beispielsweise auf Change.org, „wir brauchen keinen Führer, der Angst und Spaltung schürt. Wir brauchen eine Führungspersönlichkeit, die alle Filipinos mit verschiedenen Überzeugungen in diesem einen großen Kampf zur Rettung der Nation zu vereinen vermag. Duterte ist nicht diese Person.“ Die Schar der Regimekritiker und -gegner spekuliert darauf, dass der in Den Haag ansässige Internationale Strafgerichtshof Duterte wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit belangt.

Macht, Kabalen und Pfründe im Vorwahlkampf

Die antikommunistischen Rundumschläge von General Parlade machten selbst vor Kongressabgeordneten, bekannten SchauspielerInnen und sogar Senatsangestellten nicht halt. Ende April eskalierte der Schlagabtausch zwischen den Kontrahenten. Als Rufe lauter wurden, die kumulierte Summe von annähernd 25 Mrd. Peso für das diesjährige Budget der NTF-ELCAC sowie des Etats für „vertrauliche und geheimdienstliche” Zwecke des Präsidialamtes für die weitaus dringendere Pandemiebekämpfung einzusetzen, beschimpfte Parlade die SenatorInnen als „dumm“. Schließlich hätten diese Ende 2020 den jeweiligen Budgets zugestimmt.

Hinter diesem Streit wittern RegimekritikerInnen bereits das Schmieren der präsidialen Wahlkampfmaschinerie. Am 9. Mai 2022 stehen die nächsten allgemeinen Wahlen an. Bereits heute sieht das private Meinungsforschungsinstitut Pulse Asia die Bürgermeisterin von Davao City, der größten (Hafen-)Stadt im Süden, im Rennen um das höchste Staatsamt als mit Abstand aussichtsreichste Kandidatin. Es ist dies keine Geringere als Sara Duterte-Carpio, die Tochter des Präsidenten. Sie beerbte ihren Vater im Sommer 2016, nachdem dieser seit 1988 die längste Zeit als Chef in Davaos Rathaus residiert hatte – Politik Filipino style.

 


Dr. Rainer Werning, Politikwissenschaftler & Publizist mit den Schwerpunkten Südost- und Ostasien, ist u.a. Philippinen- und Korea-Dozent an der Akademie für Internationale Zusammenarbeit (AIZ – Bonn) sowie Ho-Herausgeber des mittlerweile in 6. Aufl. erschienenen Handbuch Philippinen (Berlin 2019: regiospectra Verlag).

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